Zigeuner

Definition

Als "Zigeuner/ Zigeunerin" bezeichnet man
a) Angehörige einer Minderheit, die sich selbst als Sinti und Roma (m.)/ Sintizze und Romnja (w.) bezeichnen und den Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" als diskriminierend ablehnen, oder
b) abwertend eine umherziehende Person ohne festen Wohnsitz.

Bei dem Terminus "Zigeuner/ Zigeunerin" handelt es sich um eine Fremdbezeichnung für ethnische Gruppen, denen von der Mehrheitsbevölkerung bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen sind geprägt von Vorurteilen und Stereotypen, durch welche die Betroffenen stigmatisiert werden, wie Faulheit, Kriminalität, Ungebundenheit oder Arbeitsverweigerung. Weiterhin werden jedoch auch vermeintlich positive und romantisierende Eigenschaften mit dem "Zigeunerbild" assoziiert, wie beispielsweise Musikalität, Freiheitsliebe oder die Nähe zur Natur. Nach dem Konzept des Othering wird der Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" benutzt, um Andere als fremdartig und exotisch zu stereotypisieren und auszugrenzen.

Einordnung

Die etymologische Herkunft des Begriffs ist bisher nicht eindeutig nachzuvollziehen, wobei in der Forschung zumeist auf das griechische Wort „athinganoi“ (die Unberührbaren) verwiesen wird. In einer Quelle aus Regensburg ist 1424 der Begriff „Cigäwnär“ in einer Urkunde zu finden und tauchte damit das erste Mal im deutschsprachigen Raum auf. Ab dem 16. Jahrhundert setzte sich in Deutschland die irrige Auffassung durch, "Zigeuner" sei abgeleitet von „Zieh-Gäuner“, also „ziehender Gauner“.

Die Wurzeln der Sinti*zze und Roma*nja liegen im heutigen Indien, von wo aus sich deren Volksgruppen Richtung Europa bewegten, wo sie vor rund 1000 Jahren zunächst vermehrt am Balkan sesshaft wurden. Bis Ende des 15. Jahrhunderts sind die Volksgruppen der Sinti*zze und Roma*nja unter dem Sammelbegriff der "Zigeuner/ Zigeunerinnen" in fast allen europäischen Ländern zu finden. Seit mehr als 600 Jahren sind die Sinti*zze und Roma*nja in Deutschland beheimatet. Ihre Geschichte in Deutschland ist von Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung und gezielter Vernichtung geprägt. Die Roma*nja siedelten vorwiegend in Osteuropa, die Sinti*zze größtenteils in Mitteleuropa und Spanien.

Zwar ist dokumentiert, dass die Sinti*zze und Roma*nja zunächst Schutzbriefe von überregionalen Landesherren erhielten, um als Handwerker arbeiten zu können, jedoch waren sie als Gruppe sozial geächtet und wurden aufgrund ihrer eigenen Sprache (Romanes) und Kultur ausgegrenzt. Um 1500 wurden die Sinti*zze und Roma*nja reichsweit für vogelfrei erklärt. Ab diesem Zeitpunkt wurde eine aktive Politik zur Ausgrenzung der Sinti*zze und Roma*nja betrieben. In die handwerklichen Zünfte durften sie fortan nicht mehr eintreten. Aufgrund der fehlenden Sesshaftigkeit der Sinti*zze und Roma*nja, welche das Resultat von Vertreibung war, entstand das Vorurteil, die "Zigeuner/ Zigeunerinnen" seien ein ständig wanderndes Volk. Dieses Vorurteil sollte über die kommenden Jahrhunderte bestehen bleiben.

Mit dem Humanismus entspannte sich die Lage der Sinti*zze und Roma*nja etwas, sie wurden formal gleichgestellt und konnten eine deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Jedoch blieben die Vorurteile und die Zuschreibungen von negativen Charaktereigenschaften bis zur Reichsgründung 1871 bestehen. Im Reich wurde fortan der Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" mit einer Menschengruppe in Verbindung gebracht, von der man sich befreien müsse. Der Bundesrat erließ 1891 die „Anweisungen zur Bekämpfung der Zigeunerplage“. Ab diesem Zeitpunkt förderte somit nicht nur die Bevölkerung, sondern auch ganz offiziell der Staat die Ausgrenzung der Sinti*zze und Roma*nja. Dazu gehörten Rücktransporte von immigrierenden Sinti*zze und Roma*nja und eine systematische, bundesweite Erfassung in der sog. „Zigeunerpolizeistelle“.

Auch in der Weimarer Republik erfuhr diese Agenda keine Zäsur und die diskriminierende Politik setzte sich bis ins Dritte Reich fort, wo sie eine neue, radikalere Intensität erreichte. Schon direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Sinti*zze und Roma*nja systematisch verfolgt, verloren ihre Staatsbürgerschaft und wurden ab Mitte der 1930er Jahre verhaftet und in Arbeitslager verschleppt. Kinder durften nicht mehr zur Schule gehen, Erwachsenen wurden Berufsverbote ausgesprochen, Zwangssterilisationen und Eheverbote konnten im Rahmen der Nürnberger Rassengesetze von 1935 auch bei den Sinti*zze und Roma*nja verordnet werden. 1938 wurde die Reichszentrale zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ gegründet. Bei der Verfolgung der Sinti*zze und Roma*nja gab es viele Parallelen mit der Judenverfolgung, etwa bei der Wahl der Begrifflichkeiten. So sprach man bei der NS-Führung von der „Zigeunerfrage“ und beschloss den Massenmord an den Sinti*zze und Roma*nja. Ab 1940 begann dieser mit der systematischen Deportation in Konzentrationslager. Etwa 200.000-500.000 Sinti*zze und Roma*nja wurden dort getötet.

Die rassistische Verfolgung von Sinti*zze und Roma*nja wurde nach dem NS-Regime noch jahrzehntelang von der Bundesrepublik nicht als Völkermord anerkannt, vielmehr noch wurden Sinti*zze und Roma*nja auch nach 1945 als "Landfahrer" weiter diskriminiert und ausgegrenzt. Bis in die 1970er Jahre hinein argumentierten die Entschädigungsbehörden der Bundesrepublik, Sinti*zze und Roma*nja seien als Kriminelle und Asoziale in die Konzentrationslager gekommen und somit selbstverschuldet Opfer der staatlichen Maßnahmen und Verfolgung geworden, sodass sie keinen Anspruch auf Entschädigungsleistungen hätten. Erst 2016 folgte eine Entschuldigung seitens des Bundesgerichtshofes für ein solches rassistisches Urteil aus dem Jahr 1956. Ab 1963 wurde die Rechtsprechung zwar zunehmend durch den Bundesgerichtshof revidiert, allerdings waren viele Entschädigungsverfahren von Sinti*zze und Roma*nja bereits abgeschlossen und zumeist negativ verlaufen. Auch das 1965 eingeführte Neuantragrecht führte nicht dazu, dass betroffene Sinti*zze und Roma*nja ausreichend entschädigt wurden. Erst ab den 1970er Jahren mit der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*zze und Roma*nja und der daraus resultierenden Abwendung von der Fremdbezeichnung "Zigeuner/ Zigeunerin" wurde deren Verfolgung während des NS-Regimes öffentlich wahrgenommen und diskutiert. 1982 erkannte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Verfolgung der Sinti*zze und Roma*nja schließlich erstmals als Völkermord an. Zudem steht deutschen Sinti*zze und Roma*nja seit 1995 offiziell der Status einer nationalen Minderheit zu.

Empfehlungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch

Grundsätzlich wird der Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" aufgrund der mit ihm verbundenen negativen Vorurteilen und Stereotypen sowie stigmatisierenden und rassistischen Konnotationen vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma als abwertend und diskriminierend empfunden und sollte demnach nicht mehr verwendet werden. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass es sich bei diesem Terminus um eine Fremdbezeichnung handelt, die einer ethnischen Gruppe zugeschrieben wurde und nicht um eine Eigenbezeichnung. Verwendet werden sollten folglich nur die Eigenbezeichnungen „Sinti/ Sintizze“ bzw. „Roma/ Romnja“. Ein weiterer Grund für die Abschaffung des Begriffs liegt im Kontext der Verfolgung der Sinti*zze und Roma*nja durch die Nationalsozialisten und dem damit verbundenen Völkermord.

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch haben sich die Bezeichnungen Sinti*zze und Roma*nja zwar weitestgehend durchgesetzt und den sozial sowie historisch belasteten Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" verdrängt, allerdings sollte vor dem Hintergrund der Geschichte und Aufarbeitung des Antiziganismus auch die aktuelle Sprachregelung inhaltlich reflektiert werden. Berücksichtigt werden muss in diesem Kontext ebenso, dass die Bilder und Vorstellungen vom "typischen Zigeuner/ Zigeunerin" gesellschaftlich und medial konstruiert sind, weshalb durch sie nicht auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit der ethnischen Gruppe geschlossen werden kann. Antiziganistische Stereotype sind daher immer noch allgegenwärtig, u.a. in den Medien oder im allgemeinen Sprachgebrauch. Insbesondere in der rechtspopulistischen und rechtsextremen Szene existieren darüber hinaus eindeutige Feinbilder bzgl. der Sinti*zze und Roma*nja. Es muss daher eine deutliche Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten und ihren Bedeutungen stattfinden, um eine entsprechende Sensibilisierung innerhalb der Gesellschaft zu erreichen. Es reicht nicht aus, die Fremdbezeichnung "Zigeuner/ Zigeunerin" lediglich durch die Eigenbezeichnungen zu ersetzen, da es einem reflektierten Umgang mit den Inhalten der Begriffe bedarf, um Zugehörigkeitszuschreibungen sowie gesellschaftliche Selbst- und Gegenbilder diskutieren zu können. Ziel sollte es daher im Sinne einer Aufklärungsarbeit von und für Sinti*zze und Roma*nja sein, Vorurteile und Stereotypen aufzubrechen, um Diskriminierung und Ausgrenzung entgegenwirken zu können.

Innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie in Auseinandersetzung mit Quellentexten erscheint es notwendig, den Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" differenziert und kritisch vor dem Hintergrund des historischen Kontextes zu verwenden. Beim Quellenmaterial muss zudem darauf verwiesen werden, dass es sich zumeist um Material handelt, welches von der Mehrheitsbevölkerung verfasst wurde und häufig in Situationen entstanden ist, in welchen Sinti*zze und Roma*nja, als "Zigeuner/ Zigeunerin" stigmatisiert, diskriminiert und verfolgt wurden. Insbesondere Schriftstücke, die im Zuge des Nationalsozialismus entstanden sind, wenden sich radikal gegen Sinti*zze und Roma*nja und sollten dementsprechend sensibel behandelt werden. Der Terminus sollte daher in Ausarbeitungen entsprechend der jeweiligen Untersuchungsperspektive kontextualisiert werden. Ebenso empfiehlt es sich, bei der problematischen Verwendung des Begriffs "Zigeuner/ Zigeunerin" diesen unbedingt in Anführungszeichen zu setzen, auch um sich selbst von diesem Terminus abzugrenzen.

Auch im Bildungskontext, wie der Schule, muss der Begriff "Zigeuner/ Zigeunerin" zwingend kontextualisiert werden, um die Schüler*innen entsprechend für die Thematik zu sensibilisieren und aufzuklären. Im universitären Umfeld hingegen ist man sich der Problematik des Terminus bewusst und kann diesen dementsprechend differenziert, kritisch und reflektiert im jeweiligen Bedeutungszusammenhang eines Forschungsgegenstandes einsetzen. Innerhalb eines Forschungsgegenstandes sollte die Verwendung des Begriffes unbedingt differenziert erklärt und begründet werden. Die inhaltliche Bedeutung des Begriffs "Zigeuner/Zigeunerin" unter den Aspekten der Ausgrenzung und Fremdbezeichnung einer ethnischen Gruppe darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen und muss dementsprechend thematisiert werden. Grundsätzlich sind daher auch im wissenschaftlichen Diskurs vorrangig die Eigenbezeichnungen zu verwenden.


Anmerkung: Dieser Eintrag gendert Sinti*zze und Roma*nja mit Sternchen * um die Wichtigkeit einer gendergerechten Sprache im Bezug auf eine zu empfehlende Eigenbezeichnung zu verdeutlichen. "Zigeuner/ Zigeunerin" wird nicht auf diese Weise gegendert, da es sich um zwei seperate diskriminierende Bezeichnungen handelt, denen nicht durch Gendern eine falsche Legitimierung zugesprochen werden soll.

Literaturempfehlungen
HEUẞ, Herbert: Die Politik der Verfolgung von Sinti und Roma in Deutschland (1870 - 1945), in: Sinti und Roma unter der Nazi-Regime. I. Von der "Rassenforschung" zu den Lagern. Zentrum für Sinti- und Romaforschung, Berlin 1996, S. 15-39.
HUND, Wulf D. (Hg.): Fremd, faul und frei. Dimensionen des Zigeunerstereotyps. Edition DISS (Bd. 35), Münster 2014.
NERDINGER, Winfried (Hg.): Die Verfolgung der Sinti und Roma in München und Bayern 1933-1945, Berlin 2016.
PIENTKA, Patricia: Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation. Reihe ZeitgeschichteN (Bd. 11), Berlin 2013.
SCHENK, Michael: Rassismus gegen Sinti und Roma. Zur Kontinuität der Zigeunerverfolgung innerhalb der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Studien zur Tsiganologie und Folkloristik (Bd. 11), Frankfurt am Main 1994.
Stellungnahmen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: Erläuterungen zum Begriff „Zigeuner“, 09.10.2015, https://zentralrat.sintiundroma.de/sinti-und-roma-zigeuner/ (letzter Zugriff am 07.07.2021).
Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache: Zigeuner, letzte Änderung 19.06.2018, https://www.dwds.de/wb/Zigeuner (letzter Zugriff am 07.07.2021).
NdM-Glossar: Sinti, Sintize, Romnja und Roma und weiterführende Begriffe, in: Wörterverzeichnis der Neuen deutschen Medienmacher*innen, o.D, https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/kategorie/06-sinti-und-roma/ (letzter Zugriff am 07.07.2021).
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen: Sinti*zze und Rom*nja, in: weiterdenken der Heinrich-Böll-Stiftung, o.D, https://weiterdenken.de/de/sintizze-und-romnja (letzter Zugriff am 07.07.2021).

Zuletzt geändert am 13.07.2021 15:27 Uhr
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