Ethnie

Ethnie, die




Definition


Mit dem Begriff „Ethnie“ wird eine sozial und kulturell in sich geschlossene menschliche Gruppierung bezeichnet. Die Individuen innerhalb dieser Gruppe teilen eine gemeinsame Sprache, weisen einheitlich erlernte oder tradierte Verhaltensmuster hinsichtlich Kommunikation und Kooperation auf und befinden sich in mehr oder weniger weitgehender Isolierung zu anderen menschlichen Gemeinschaften (Beer 2011, S. 65; Heinz 1999, S. 175; Lötzsch 1999, S. 16). Heute wird unter dem Begriff „Ethnie“ insbesondere ein Konzept verstanden, mit dem die Unterschiede zur eigenen Identität, die „Alterität”, historisch konstruiert und eine „gemeinsame Abstammungsgeschichte“ unterstellt wird (Jonuz & Weiß 2020, S. 30; Zehnle 2020, S. 461).



Einordnung


Der Begriff „Ethnie“ stammt von dem griechischen Wort „ethnos“ und wird häufig mit „Volk“ oder „Stamm“ übersetzt. Der Begriff kann jedoch auch in Abgrenzung zu einem „Volk“ angewandt werden. Dann wird eher eine kleinere menschliche Gruppierung bezeichnet, die das Gegenteil zu einem großen, historischen und kulturell entwickelten „Volk“ darstellen soll (Heinz 1999, S. 159 f.). Der Ausdruck „Ethnie“ stammt aus der Kolonialzeit und relativierte den Begriff „ethnisch“, der im Prozess der Nationenbildung als Ordnungskriterium fungierte (Jonuz & Weiß 2020 S. 30 f.). In diesem Zusammenhang wurden territoriale Gebiete nach dem Grundsatz der dort lebenden „Ethnien“ zugeschrieben und voneinander abgegrenzt (ebd. S. 30). Der Begriff wurde somit ausschließlich auf außereuropäische Gemeinschaften bezogen. Europäische und größtenteils auch asiatische Gemeinschaften wurden hingegen als „Völker“ und „Nationen“ bezeichnet (Heinz 1999, S. 159f.).
Um den Begriff „Ethnie“ hat sich Anfang des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Disziplin entwickelt – die Ethnologie, früher auch Völkerkunde. Innerhalb der klassischen Ethnologie sind zwei Grundannahmen wesentlich: Der primordale oder auch essentielle Ansatz postuliert, dass die „Ethnizität“ eine menschliche, natürliche und biologische Kategorie sei. Somit ließen sich Menschengruppen mittels ihrer „Ethnizität“ voneinander unterscheiden. Dem steht der konstruktivistische Ansatz gegenüber, bei dem davon ausgegangen wird, dass „Ethnizität“ lediglich eine soziale Konstruktion sei. Somit lassen sich in der Ethnizitätsforschung eine „rassismusbildende“ und eine „rassismuskritische“ Annahme unterscheiden (Jonuz & Weiß 2020, S. 23 f.). Im allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs sind die Begriffe „Ethnie“ und „Ethnizität“ noch recht jung. In der Forschungsliteratur kamen diese insbesondere in den 1970er Jahre auf und wurden vor allem im Kontext der Dekolonisation und der damit verbundenen geopolitischen Umstrukturierung verwandt. Begriffe wie „ethnische Gruppe“, „ethnische Minderheit“ oder auch „ethnische Einheit“ wurden dann vermehrt eingesetzt, um Wörter wie „Volk“, „Stamm“, „race“ oder „cultural group“ zu vermeiden und einen vermeintlich neutraleren Begriff zu nutzen (Beer 2011, S. 63).
Trotz der semantischen Nähe zum „Völkischen“ oder zum „Nationalen“ ist der Begriff recht unklar definiert. Häufig wird er durch eine Aufzählung vermeintlich charakteristischer und konstituierender kultureller, sprachlicher und nicht selten auch „rassischer“ Merkmale umschrieben. In den Definitionsversuchen steht in der Regel die sogenannte Abstammungsgemeinschaft im Vordergrund, die das „Ethnische“ vom „Kulturellen“ trennen solle (Heinz 1999, S. 160). Die Verwendung von „Ethnie“, oder auch die Verwendung des Wortes als Adjektiv, kann durchaus problematisch gesehen werden. Die Bezeichnung stammt, ebenso wie die historischen Kategorien „Rasse“, „Kultur“ und „Minderheit“, aus einem geschichtlichen Kontext. Er ist sehr stark mit Machtfragen verknüpft und verfährt mit einer bestimmten Vorstellung von Alterität (Sökefeld 2007, S. 38). Nach der Kritik an dem Konzept „Ethnie“ würde dieses kulturelle Grenzen ziehen, innerhalb derer eine Homogenisierung aller Menschen stattfinde und soziale Grenzen übergangen werden würde. Diese kulturellen Grenzen würden gleichzeitig eine „Grenze der Interaktion“ darstellen, womit „Ethnien“ die „Opferrolle“ in der Welt zugeschrieben würde (Heinz 1999, S. 160). Somit könne das „Ethnische“ als mentale Grenzlinie zwischen den „Kolonisierenden“ und den „Kolonisierten“ gesehen werden, also den „Völkern“, die Geschichte schreiben und den „Völkern“, die keine eigene Geschichte haben (Heinz 1999, S. 159 f.). Die Verwendung von „Ethnie“ diente somit insbesondere als ein legitimiertes Mittel der Kolonialideologie. Wird der Begriff heute genutzt, so muss stets erläutert werden, was mit der Verwendung des Begriffs gemeint ist. Andererseits muss davon ausgegangen werden, dass dieser in dem hier angegebenen Sinn angewandt wird (Heinz 1999, S. 160).



Empfehlungen/Anregung für den gegenwärtigen Sprachgebrauch


Im schulischen und musealen Kontext kann der Begriff „Ethnie” durchaus verwendet werden, sofern dieser im „rassismuskritischen” Sinne eingeordnet und verwendet wird. Im universitären und musealen Kontext sollte eine Verwendung des Wortes jedoch vermieden werden. Möchte der Begriff umgangen werden, wäre eine Bezeichnung der menschlichen Individuen in ihren Milieus und Netzwerken denkbar, wie beispielsweise: Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis, Nachbarschaft, Schule, Betrieb, religiöse Gemeinschaft, Partei, Interessenverband, Verein usw. (Heinz 1999, S. 175 f.). Kollektive können je nach Kontext auch als Kulturgemeinschaft, Sprachgemeinschaft oder Traditionsgemeinschaft bezeichnet werden, sofern diese gemeint werden. Zu beachten ist jedoch, dass auch mit diesen drei Worten eine gewisse Homogenisierung der Individuen mitschwingt. Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch wird zunehmend das Wort „Communities“ verwendet, um menschliche Zusammenschlüsse zu bezeichnen. Dieses Wort ermöglicht eine neutralere Bezeichnung und unterstellt weniger eine gemeinsame Abstammung, eine einheitliche Sprach-, Kultur- oder Traditionsausprägung. Offen bleibt an dieser Stelle jedoch die Frage, inwieweit sich in der deutschen Sprache überhaupt alternative und wertfreie Begriffe zu „Ethnie” ausmachen lassen. Die Verwendung von englischsprachigen an Stelle von deutschsprachigen Begriffen kann durchaus als Ausdruck dessen gedeutet werden.



Literatur


Beer, B. (2011): Kultur und Ethnizität. In: Beer, B. /Fischer, H.(Hrsg.): Ethnologie. Eine Einführung, Berlin. S- 53-73.

Heinz, M. (1999): Der fundamentale Irrtum im „ethnischen Diskurs“. Wilhelm Heitmeyers unkritischer Umgang mit einem undefinierten Begriff. In: Bukow, W.-D./ Ottersbach, M. (Hrsg.): Der Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit allochthonen Jugendlichen, Wiesbaden, S. 159-177.

Jonuz, E. & Weiß, J. (2020): (Un-)Sichtbare Erfolge. Bildungswege von Romnja und Sintize in Deutschland. Interkulturelle Studien, Wiesbaden.

Sökefeld, M. (2007): Problematische Begriffe. „Ethnizität", „Rasse", „Kultur", „Minderheit". In: Schmidt-Lauber, B. (Hrsg.): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Reimer Kulturwissenschaften, Berlin, S. 31-50.

Zehnle, S. (2020): Wie die „Stämme“ nach Afrika kamen. Eine transkontinentale Begriffsgeschichte der Islamisierung, Kolonialisierung und Tribalisierung. In: Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven 20, Heft 2, S. 459-490.


Internetseiten


„Communities” bei Google Ngram Viewer: https://books.google.com/ngrams/graph?content=Communities&year_start=1800&year_end=2019&corpus=31&smoothing=3, letzter Zugriff am 21.06.2021.

„Ethnie” bei Google Ngram Viewer: https://books.google.com/ngrams/graph?content=Ethnie&year_start=1800&year_end=2019&corpus=31&smoothing=3&direct_url=t1%3B%2CEthnie%3B%2Cc0#t1%3B%2CEthnie%3B%2Cc0, letzter Zugriff am 21.06.2021

Zuletzt geändert am 09.07.2021 15:48 Uhr
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