Definition
primitiv Adj. ‘ursprünglich, urtümlich, auf einer frühen Entwicklungs- bzw. Kulturstufe stehend’, in häufiger und breiter Verwendungsweise auch ‘einfach, roh, dürftig, armselig, naiv’ (Bsp.: primitive Völker (s. Volk), primitive Werkzeuge). Wird auch abwertend als Synonym für unzivilisiert, unausgereift, notdürftig oder karg gebraucht (Bsp.: primitive Behausungen, primitive Lebensverhältnisse). Als Gegensatz zu Zivilisiertheit wird primitiv als ungebildet, unkulturell, anspruchslos und ungehobelt verstanden (Bsp.: primitive Ansichten, primitive Wortwahl).
Etymologie
Der Begriff primitiv hat seinen Ursprung im 18. Jh und geht auf das französische Wort primitif (deutsch: 'ursprünglich') zurück. Es ist dem lateinischen prīmitīvus (deutsch: 'der erste in seiner Art') entlehnt und entstammt dem mittellateinischen ('ursprünglich'). Der lateinische Ausdruck prima (deutsch: 'die Erste') wird heutzutage als Lob verwendet. Der Begriff lässt sich mit dem französischen primitivité (deutsch: 'Ursprünglichkeit, Einfachheit, Dürftigkeit') aus der 1. Hälfte des 20. Jhs vergleichen.
Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext
Früher wurden diejenigen indigenen Völker (s. Volk) als "primitiv“ bezeichnet, die über keine Schrift und nur einfache Technik verfügten und die eine ursprüngliche und naturverbundene Kultur und Religion hatten. Die Versorgung geschah überwiegend über Ackerbau oder Viehzucht. Auch Gesellschaften, die sich als Jäger und Sammler betätigen, werden häufig mit diesem Wort beschrieben. Der Begriff ist durch eine eurozentristische Perspektive auf die Lebenswelt anderer Gesellschaften geprägt und wird genutzt, um die eigene vermeintlich "zivilisiertere" Kultur oder Gesellschaft über die "primitive" zu stellen.
Die Benennung von bestimmten Gruppen als primitiv wurde während des Kolonialismus als Rechtfertigung für das Vorgehen der Europäer genutzt. Wenn ein Volk als primitiv und somit als rückständig angesehen wurde, wurde keine Rücksicht auf seine Kultur genommen. Diese Gruppen wurden unter dem Vorwand einer "Zivilisierungsmission" von den Kolonialisten ausgebeutet und versklavt.
Diese Idee der Europäer beruhte unter anderem auf den Theorien der Soziokulturellen Evolution, die besagten, dass Gesellschaften von einem "primitiven" Zustand mit der Zeit in einen "zivilisierteren" Zustand übergehen. Dabei werden die Kultur und die technischen Errungenschaften der westlichen Gesellschaft als ultimativer Fortschritt angesehen. Alle Gesellschaften sollten diesen Prozess durchlaufen, jedoch in unterschiedlicher Geschwindigkeit.
Heutzutage wird die Unterscheidung zwischen "primitiv" und "zivilisiert" kaum noch in Veröffentlichungen verwendet und die Theorien der Soziokulturellen Evolution werden sehr kritisch betrachtet. Stattdessen wird betont, dass sogenannte "primitive" Gesellschaften eine eigene Geschichte haben und genauso entwickelt sind wie sogenannte "zivilisierte" Gesellschaften.
Empfehlungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch
An sich ist der Begriff primitiv, kein problematischer oder diskriminierender Begriff, wenn er im richtigen Kontext verwendet wird. Diskriminierungsfrei zu kommunizieren bedeutet, dass alle Menschen gleichwertig angesprochen und dargestellt werden. Dabei darf niemand direkt oder indirekt, absichtlich oder unabsichtlich abwertend behandelt, ausgeschlossen oder erniedrigt werden. Diskriminierung geschieht oft unbewusst oder unabsichtlich, weil es an Hintergrundwissen mangelt.
Allgemein ist primitiv die wertungslose Beschreibung eines Umstandes oder eines Gegenstandes. Dabei wird oft Bezug auf eine ursprüngliche, naturverbundene Art genommen und kann synonym zu archaisch verstanden werden. Im Alltag kann der Begriff jedoch schnell abwertend verwendet werden, wenn der Gebrauch des Begriffs auf eine Nation, Gesellschaft, Kultur, Religion o.ä. genutzt wird. In dem Zusammenhang implementiert er immer eine Herabsetzung. Er bezeichnet einen Kontrast zur sogenannten westlichen, industrialisierten, zivilisierten Welt. Diese Abwertung entstammt einer eurozentristischen Perspektive.
Das Wort primitiv sollte daher heute nicht mehr im Zusammenhang mit Menschen und Kulturen genutzt werden, da diese negative Bezeichnung aus der Kolonialzeit stammt. Er fußt auf dem ethnologischen Gedankengut, auf dem auch Antisemitismus und Rassismus basieren.
Bei der Auseinandersetzung mit den Themen Kolonialismus und Imperialismus kritisieren einige Autoren die Annahme, dass sogenannte primitive Gesellschaften/Völker den Entwicklungspfad zu einer modernen? und industriell entwickelten Gesellschaft abgebrochen oder nicht gefunden hätten. Stattdessen sollte der Eigenwert der sogenannten primitiven Gesellschaften unter den Varianten der gesellschaftlichen Ordnung, die sich in der Geschichte der Menschheit herausgebildet haben, betont werden. Darüber hinaus sollte herausgestellt werden, dass zeitgenössische sogenannte primitive Völker das Ergebnis einer ebenso langen Geschichte sind wie industrielle Gesellschaften. Sie sind damit kein Abbild einer frühzeitlichen Gesellschaftsform. Das Wort primitiv sollte in diesen Kontexten also entweder zunächst erklärt und thematisch eingeordnet werden, oder es sollte ganz darauf verzichtet werden.
Abseits von diesem geschichtlichen Kontext wird der Begriff jedoch auch im Alltag oder anderen Disziplinen relativ unbedenklich verwendet. In der Biologie werden Einzeller oder einfache Wirbellose als primitiv bezeichnet. In der Prähistorik werden die frühsten Werkzeuge und Malereien der ersten Menschen objektiv als primitiv beschrieben. In diesen Kontexten beschreibt der Begriff die Einfachheit und Ursprünglichkeit von Dingen und dient nicht zur Abgrenzung und Aufwertung einer anderen Art oder Lebensweise.
Auch heutzutage wird der Begriff in Debatten oder (Film-, Theater- , Literatur-) Kritiken noch oft genutzt. Hier kann das Wort sowohl positiv verwendet werden, um die Schlichtheit von Dingen lobend hervorzuheben oder aber negativ, um Beschränktheit oder Begrenztheit zu kritisieren. In beiden Kontexten kann der Begriff aber als unproblematisch eingeordnet werden.
Literaturempfehlungen
Jungraithmayr, Herrmann. Was ist 'primitiv'? zum Stand der Sprachgeschichtsforschung in Afrika. Wiesbaden, 1987.
Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 3. Aufl., Münster, 2019.
http://www.wirtschaftslexikon.co/d/gesellschaft-primitive/gesellschaft-primitive.htm (14.07.21 10:54).