Orient

Definition

Der „Orient“ ist ein aus westlicher Perspektive konstruierter, uneindeutiger und vereinheitlichender Begriff, der heute für vorder- und mittelasiatische Länder bzw. den „Mittleren und Nahen Osten“ verwendet wird, also Gegenden, die durch die arabisch-islamische Kultur und deren politischen Einfluss geprägt sind. Süd- und Südostasien werden nicht mehr unter diesem Wort zusammengefasst. Der „Orient“ ist ein Synonym für die Bezeichnung „Morgenland“ und wird häufig in Abgrenzung zu dem Begriff „Okzident“ („Abendland“) verwendet.

Einordnung

Der „Orient“ wird nur in der Einzahl verwendet und hat regional unterschiedliche Bedeutungen. Obwohl er einen historischen Bedeutungswandel erfuhr, wurde er in Form des Othering stets in Abgrenzung zum „westlichen" Selbst verwendet. Die Verwendung des Wortes unterlag einem stetigen Wandel, der von zeitlichen, geographischen, politischen, sprachwissenschaftlichen und kulturellen Faktoren abhängig war. Als charakteristische Merkmale gelten der Islam, Nomadismus, Bewässerungswirtschaft in Form von z. B. Oasen und häufig das Vorkommen von Erdöl.

Ursprünglich bezeichnete er eine der vier römischen Weltgegenden und wird heute als veralteter Begriff aufgefasst. Er ist aus dem Lateinischen oriēns, das „Osten, Morgen, Gegend, Länder in Richtung Sonnenaufgang (von Rom aus gesehen)“ bedeutet, entlehnt, ebenso wie dem Lateinischen orīrī, das „sich erheben, aufgehen, entstehen, geboren werden“ heißt. Der „Orient“ beschrieb also eine Richtungsangabe aus der Perspektive der verwendenden Person, in der Anfangszeit des Begriffes also aus Sicht Judas bzw. Israels. Die Verschiebung der kulturellen Zentren des "Westens" geschah parallel dazu auch örtlich, sodass im Mittelalter zudem Gebiete des heutigen Ost- und Südosteuropa unter den „Orient“-Begriff zusammengefasst wurden. Der „Orient“ war demnach nie ein zusammenhängendes Reich oder ein festumgrenzter Staat.

Im 19. Jh. wurde der Begriff sehr weit gefasst: Er beschrieb die gesamte asiatische und arabische Welt, Teile des Osmanischen Reiches und aus west- bzw. mitteleuropäischer Sicht südlich gelegene Gebiete, wie Spanien, Kreta, Süditalien und Zypern sowie nahezu den ganzen afrikanischen Kontinent. Im 19. und 20. Jh. galt Indien, das als spirituell charakterisiert wurde, oft als stellvertretendes Abgrenzungsbeispiel zu dem als materialistisch empfundenen Westen.

In den 1970ern kam im universitären Kontext die Kritik an diesem Begriff in Form der Orientalismusdebatte auf, an der Edward Said als treibende Kraft beteiligt war. Er beschreibt ein aus "westlicher" Sicht verzerrtes und exotisierendes Bild des „Orients“, das von diesem konstruiert und somit fremdbestimmt und vorurteilsbehaftet sei. Dieser Begriff entspräche nicht der Realität, denn der „Orient“ sei kein realer Ort, sondern eine europäische Idee, um sich vom „Anderen“ abgrenzen zu können. Dies wird auch in der Verwendung des Wortes „Okzident“ bzw. „Abendland“ als Gegensatz zum „Orient“ bzw. „Morgenland“ deutlich, dessen Konzept im 18. Jh. entstand.

Empfehlungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch

Der „Orient“ wird mittlerweile im wissenschaftlichen Kontext weitestgehend nicht mehr gebraucht, es bestehen jedoch u.a. noch universitäre Lehrstühle, die „Orientalismus“ im Namen tragen. Heute wird darauf hingewiesen, dass es sich bei „Orient“ und „Okzident“ nicht um zwei in sich abgeschlossene und voneinander getrennte Kulturen handelt. Sie gehen oft ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig. Es wird auf Kulturtransfers zwischen diesen vermeintlichen Gegenpolen hingewiesen, wie der Begriff der Transkulturalität zeigt. Der "Orient" ist außerdem durch die vielen Nationen und die verschiedenen in ihm lebenden Kulturen äußerst divers, sodass diese nicht unter einem Begriff subsummiert werden sollten.

Diese Vereinheitlichung unter der Bezeichnung des „Orients“ sollte also nicht länger erfolgen, da sie der Verschiedenheit der Kulturkreise nicht gerecht werden kann. Nationen und ihre spezifischen Kulturen, die unter diesem Begriff gefasst werden, müssen unterschieden werden. Besonders im 18. und 19. Jh. etablierten sich durch europäische Schriftsteller vielfältige Stereotype über den „Orient“, wie dessen Fremdheit, Märchenhaftigkeit, Fantastik, Traumhaftigkeit, Exotik oder Erotik, die bis heute nachwirken und z. T. in der Werbung und dem Tourismus weiterhin präsent sind. Um diese Vorstellungen nicht weiter zu verfestigen, ist die Abschaffung der Verwendung des Orientbegriffes in der Forschung, der Alltagssprache und v.a. in Bezug auf rassistische Äußerungen anzustreben.


Literaturempfehlungen
ATTIA, Iman: Die westliche Kultur und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Berlin 2009.
BRANDS, Gunnar (Hg.): Orient, Orientalistik, Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011.
KURZ, Isolde: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Würzburg 2000.
POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2012.
SAID, Edward: Orientalismus, Frankfurt a. M. 2017.

Zuletzt geändert am 13.07.2021 13:33 Uhr
Powered by PmWiki