Stamm

Stamm, der




Definition


Der ‚Stamm’ (lat. tribus) ist eine bestimmte Form menschlichen Zusammenlebens in Verbänden, welche sich auf gemeinsame Verwandtschaft und Abstammung beruft. Historisch lebten sie meist in zusammenhängenden Territorien und unterschieden sich in Hinblick auf ihre Kultur, Sprache o.ä. Gemeinsamkeiten von anderen Gruppen.



Einordnung


Zu den grundsätzlichen Merkmalen eines ‚Stammes’ gehören: Berufung auf einen gemeinsamen Stammvater, eine hierarchisch aufsteigende Gliederung in Haushalten, Familien und Clans, Bindung an ein Siedlungsgebiet, gemeinsame kulturelle Traditionen (z.B. Brauchtum, Dialekte, Sprache, Kultur und Wirtschaft) sowie die politische Einheit nach außen.
Schon in der Bibel begegnet man den ‘Zwölf Stämmen Israels’. Diese israelitischen Stämme weisen eine gemeinsame Sprache und Kultur innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes auf. Daraus entwickelte sich ein eigenes, sich nach außen abgrenzendes Zusammengehörigkeitsgefühl, welches durch eine Führungspersonen, z.B. einen Stammesvater geleitet und gefestigt wurde.
Die juristische Terminologie ist jedoch eng mit der Kolonialgeschichte verknüpft, erhält aber in der Gegenwart oft dann eine neue Bedeutung, wenn die Betroffenen ihre indigene Rechte geltend machen wollen. Allerdings ist der Begriff umstritten, weil er oft negative Assoziationen hervorruft, wie beispielsweise eine ‚primitive‘ und ‚unterentwickelte‘ Lebensweise. Aufgrund dieser engen Verknüpfung sollten diese Begrifflichkeiten immer kritisch betrachtet und hinterfragt werden. In der Kolonialzeit ist dieser Begriff genutzt worden, weil die Europäer*innen glaubten, alle Afrikaner*innen seien in straffen, von der Tradition und einem unveränderlichen Weltbild geprägten Form organisiert und in feste Normen, Sitten und Gebräuche eingebunden. Der Begriff diente folglich in erster Linie der Abgrenzung zu den Europäer*innen. Zudem wurden in afrikanischen Kolonien gesellschaftliche Gruppierungen von der Kolonialverwaltung in ‚Stämme’ eingeteilt, weil es die Verwaltung vereinfachen sollte. Diese Einteilung erfolgte meist nach objektiven Kriterien wie Sprache, Kultur oder gleiches Territorium. Vielfach wurden so neue Gruppenidentitäten und neue Führungspersonen erst durch das Eingreifen der Verwaltung geschaffen. Dieser Prozess dauerte bis Mitte des 20. Jahrhunderts an und teilweise darüber hinaus.
Einzelne Stämme bildeten häufig größere Konföderationen, die dann auch sprachliche und kulturelle Unterschiede umfassen konnten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhielt ‚Stamm’ für die heutige Gesellschaften die allgemeine Bedeutung einer einfach und ursprünglich organisierten Untergruppe einer (außereuropäischen) Gesellschaft.



Empfehlung für den gegenwärtigen Sprachgebrauch


Der vage Begriff ‚Stamm’ sollte nicht pauschal auf größere ethnische Gruppen angewandt werden, die zwar sprachlich und kulturell, aber in der Regel nicht politisch eine Einheit bilden. Der Ausdruck ‚Stamm’ differenziert nicht zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, was aber sowohl alltagssprachlich als auch wissenschaftlich inkorrekt ist, da er die gesellschaftliche Komplexität dieser Systeme reduziert. Alternative Bezeichnungen, welche vornehmlich im Journalismus genutzt werden sind: ‚Ethnie’, ‚ethnische Gruppe’ ‚ethnic group’, ‚Volk’, ‚Volksgruppe’ oder ‚XY people’, wobei ‘XY’ für etwaige Namen einer solchen Gruppe steht. Grundsätzlich hat sich seit der UNO-Charta aus dem Jahr 1945 der Begriff ‚Volk‘ etabliert. Dabei steht ‚Volk‘ zum einen für die Nationalität und zum anderen für eine selbst definierte Bevölkerungsgruppe, welche sich zum Beispiel durch eine gemeinsame Sprache zusammensetzt.
Heutzutage wird der Begriff ‚Stamm’ außerhalb von vor- und frühgeschichtlichen Kontexten folglich nicht mehr so häufig verwendet und taucht nur noch in Form des negativ konnotierten Begriffs ‚Tribalismus‘ auf, welcher eng mit der Rassismus-Problematik verknüpft ist. Diese positive Entwicklung ist im alltagspolitischen und journalistischen Sprachgebrauch für die meisten Weltregionen vollzogen worden, allerdings nicht für Afrika. Dieses Problem spiegelt sich auch in der Mehrzahl der Schulbücher wieder, da die doppelte Bedeutung des Begriffs ‚Volk‘ für Afrika nicht greift, sondern weiterhin der Begriff ‚Stamm‘ genutzt wird.
Zudem ist es problematisch, dass durch den Begriff ‚Stamm‘ eine Art Homogenität der so bezeichneten Gesellschaften suggeriert wird. Es ist jedoch unsinnig, diese unterschiedlichen Gesellschaften unter dem Begriff zu subsumieren. Es ist auffällig, dass der Begriff ‚Stamm‘ nur im Zusammenhang mit Afrika und einigen anderen Regionen der sogenannten ‚Drittweltländern‘ verwendet wird. Im europäischen Kontext spricht man eher von Völkern und Volksgruppen. Grundsätzlich verschwand der ‚Stamm‚ aus den heutigen gesellschaftspolitischen Diskussion. Doch in Bezug auf alle Arten von Wirtschaftskrisen und Strukturproblemen in Drittweltländern wird noch heute mit diesem vorurteilsbehafteten Begriff gearbeitet. Ein großes Problem ist, dass Sprache nicht neutral ist oder betrachtet werden kann. Folglich müssen solche vorbelasteten Begrifflichkeiten immer in ihrem historischen Kontext betrachtet werden, weil durch Sprache auch überkommene Stereotype und Bilder transportiert werden. Ein gebräuchlicher Begriff zur Beschreibung von Gruppen, die gemeinsame Merkmale aufweisen, ist zurzeit ‚Ethnie’. Allerdings besteht auch hier die Gefahr, dass eine Ethnie als eine fest abgrenzbare Gruppe verstanden wird. Das ethnologische Verständnis von Ethnie aber eine Gruppe, welche sich selbst als eine solche bezeichnet und wahrnimmt. Dabei gilt zu beachten, dass sowohl bei dem Begriff ‚Stamm’ als auch bei ‚Ethnie’ die Gruppenzugehörigkeit zwar auf gemeinsamen Merkmalen fußt, jedoch auch flexibel ist.




Literatur

Arndt, Susan/Hornscheidt, Antje (Hrsg.): Rassismus und Sprache: Kritisches Nachschlagewerk zur deutschen Afrikaterminologie, Münster 2004.

Aschenbrenner-Wellmann, Beate: Ethnizität in Tanzania: Überlegungen zur Bedeutung der Ethnizität im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels. München 1991.

Kreff, Fernand / Knoll, Eva-Maria/ Gingrich, Andre (Hrsg.): Stamm, in: Lexikon der Globalisierung. Bielefeld 2011.

Zuletzt geändert am 12.07.2021 19:33 Uhr
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