Definition
Der Postkolonialismus beschreibt eine Geistesströmung, welche sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit dem Beginn der Dekolonisation und der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und Imperialismus entwickelt hat. Hierbei werden Thematiken wie Rassismus, Nationalismus und Ethnizität oder kulturelle Identitäten aufgegriffen und im Bezug auf die Realitäten der Gegenwart gesetzt.1
Die interdisziplinäre Forschungsrichtung des Postkolonialismus, die Postcolonial Studies, entwickelte sich in den 1980er Jahren unter Bezugnahme auf die Studien Edward Saids zum Orientalismus. Resonanz finden die Postcolonial Studies vor allem in den Geschichtswissenschaften und Literaturwissenschaften.2 Wegen der unterschiedlichen angewandten Methoden und Ausgangspunkten der Sprecher_innen ist postkoloniale Kritik als ein vielfältiges Feld zu betrachten, welches intrinsisch dazu motiviert ist eine Heterogenität an Redner_innen zuzulassen, sodass postkoloniale Diskurse nicht allein in akademischen Kreisen geführt werden.3
Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext
Die gemeinsamen Ausgangspunkte des postkolonialen Diskurses sind vielfältig, darunter auch die Diskurse über Idenititätskonstruktionen, koloniale Praktiken und Machtausübung oder der Kontrolle von Wissensproduktion und der damit einhergehenden Legitimierung einer Kolonialpolitik.4
Die Schwerpunkte des Postkolonialismus beschäftigen sich mit drei grundlegenden Ansätzen.
Erstens würde die formale Unabhängigkeit von Kolonien, wie in den 1960er Jahren, nicht das Ende des Kolonialismus bedeuten. Koloniale Strukturen, Eliten aber auch sozio- kulturelle Veränderungen aus der Kolonialzeit verbleiben, trotz der Existenz von souveränen Staaten. Diese Sachverhalte rufen Debatten über eine Fortsetzung der kolonialen Ära in Form des Neokolonialismus hervor, weitergeführt durch die transnationalen und transkontinentalen Verknüpfungen von Staaten und internationalen Konzernen der Industriestaaten mit den souveränen Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolonien.5
Zweitens läge die Bedeutung der Postcolonial Studies im Grunde in der Anerkennung, dass koloniale Herrschaft und Expansion durch koloniale Diskurse und durch die Unterstützung breiter Bevölkerungsmassen nicht nur möglich, sondern auch denkbar machten.6 Anknüpfend daran resultiere Kolonialismus über das Verfügen eines kolonialen Bewusstseins.7 Mit der Exotisierung des kolonialen 'Anderen' waren ungleiche Machtverhältnisse eingebunden, welche zur Verstärkung und zum Erhalt jener Denkweise führt.8
Drittens zeigt das binäre Denken, dass Kolonialismus „[…]wahlweise positiv (Kulturmission und Modernisierung) oder negativ (Unterdrückung und Ausbeutung) gedeutet werden konnte“9. Hier werden kurzsichtig in einer Herrschaftsbeziehung zwei grundsätzliche Gegensätze behandelt, was dazu führe, dass die Wechselbeziehungen, Austauschverhältnisse und facettenreichen Realitäten des kolonialen Alltags aber auch die Verhältnisse zwischen Metropole und Kolonie ausgeblendet werden, sodass der bloße Eindruck von zwei getrennten Entitäten entsteht.10
Problematisierung
Während das Präfix post- suggerieren mag, dass der Begriff 'Postkolonialismus', wie die Zeit der Dekolonisation nach dem Zweiten Weltkrieg, eine chronologische Epoche aufzeigt, wird eben dieser Begriff in 'postkolonialen' Staaten Afrikas, Amerikas, Asiens und Australiens/Ozeaniens kritisch- analytisch als 'spät- oder neokolonial' verwendet.11 Deswegen wird im deutschen Sprachraum mit der Schreibform 'post/kolonial' gearbeitet, um zu betonen, dass der Kolonialismus nicht allein als eine abgeschlossene Ära der Vergangenheit verstanden werden darf. 12
So sind postkoloniale Kritiker_innen demnach bestrebt unterrepräsentierte und marginalisierte Perspektiven aufzuwerten und innerhalb der geltenden Ordnung in einen Gegensatz stellen zu dürfen. Trotz der eigenen Verpflichtung die 'Ungehörten' zu repräsentieren, sind die Postcolonial Studies in Institutionen oftmals unterrepräsentiert.13
Verwendete Literatur
[1] Vgl. Ha, Kien Nghi: „Postkolonialismus“. In: Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S.177- 184, hier S.178.
[2] Vgl. Conrad, Sebastian: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte 10/2012, veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung, URL online unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus-schluesselbegriffe-der-aktuellen-debatte/ (abgerufen am 21.02.2022).
[3] Vgl. Ha, Kien Nghi: „Postkolonialismus“. In: Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S.177- 184, hier S.180.
[4] Vgl. ebenda, S.182.
[5] Vgl. Conrad, Sebastian: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte 10/2012, veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung, URL online unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus-schluesselbegriffe-der-aktuellen-debatte/ (abgerufen am 21.02.2022).
[6] Vgl. ebenda.
[7] Vgl. Osterhammel, Jürgen/ Jansen, Jan C.: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München⁷ 2012, S. 21.
[8] Vgl. Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München⁴ 2019, S. 89.
[9] Conrad, Sebastian: Kolonialismus und Postkolonialismus: Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatte 10/2012, veröffentlicht von der Bundeszentrale für politische Bildung, URL online unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/146971/kolonialismus-und-postkolonialismus-schluesselbegriffe-der-aktuellen-debatte/ (abgerufen am 21.02.2022).
[10] Vgl. Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München⁴ 2019, S. 86.
[11] Vgl. Ha, Kien Nghi: „Postkolonialismus“. In: Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S.177- 184, hier S.178- 179.
[12] Vgl. ebenda, S. 178- 181.
[13] Vgl. ebenda, S.177- 184, hier S.180- 181.
Weiterführende Lektüre
Beckmann, Andreas: Chancen und Grenzen eines postkolonialen Denkens 08/2019, veröffentlicht von deutschlandfunk.de, URL online unter: https://www.deutschlandfunk.de/kolonialismus-chancen-und-grenzen-eines-postkolonialen-100.html.
Buch, Hans Christoph: Vorwürfe gegen „Brücke“-Maler: Postkoloniale Selbstgerechtigkeit 01/2022, veröffnetlicht von faz.net, URL online unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hans-christoph-buch-ueber-die-selbstgerechtigkeit-der-kritiker-der-bruecke-kuenstler-17717316.html.
Chibber, Vivek: Die blinden Flecken des Postkolonialismus 11/2019, veröffentlicht von deutschlandfunkkultur.de, URL online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-vivek-chibber-die-blinden-flecken-des-100.html.