Musterkolonie

Definition


Als eine sogenannte Musterkolonie wurden im Sprachgebrauch des deutschen Kaiserreichs Kolonien bezeichnet, die mit den Vorstellungen des Reiches von einer Kolonie besonders übereinstimmten. [1]

Beispielsweise die Kolonien Deutsch-Samoa, Kiautschou und Togo wurden als solche Musterkolonien bezeichnet. [2] Das Präfix Muster- bezeichnet hier somit eine Vorlage bzw. Modell einer – nach bestimmten Vorstellungen – ‚idealen‘ Kolonie. [3]

Einordnung


In der Zeit des Kolonialismus galten einige Kolonien in den Vorstellungen des deutschen Kaiserreichs aufgrund verschiedener Spezifika als ‚mustergültig‘.

Auf wirtschaftlicher Ebene sollten Musterkolonien beispielsweise ökonomisch unabhängig von dem deutschen Kaiserreich funktionieren. [4] Darüber hinaus hat das deutsche Kaiserreich z.B. sehr stark in die Wirtschaftsordnung des chinesischen Kiatschaou eingegriffen und diese durch u.a. „Eingriffe in die Wettbewerbssituation, direkte Hilfen, Subventionen und Förderungen“ [5] von oben gelenkt. [6]

Durch "Aufbau einer Kolonialverwaltung v.a. die Schaffung einer modernen Infrastruktur mit der Anlage von Straßen, dem Aufbau eines Frischwasserversorgungssystems und einer funktionierenden Kanalisation“ [7] mehr als verdoppelte sich die Bevölkerungszahlen in Kiatschaou von 70.000 (1898) auf 190.000 (1914) Einwohner*innen. [8] Die Hauptstadt Kiatschaous Tsingtsau hatte sich durch den europäischen Einfluss sehr verändert und so wurde es aus einem vornehmlich von Fischerei und Landwirtschaft geprägten Ort zu „Verwaltungssitz und Handelsmetropole ausgebaut“ [9]. [10] Der Historiker Conrad sagt aus, dass „die Maßnahmen in Tsingtau […] im Zeichen einer Vision hygienischer, sanitärer und verkehrstechnischer Ordnung[standen], die im Kaiserreich als eine Sache der Zukunft angesehen wurde“ [11].

Die Lebensräume der kolonialisierten Personen und der Europäer*innen unterschied sich jedoch fundamental: In Tsingtau z.B. wurden die Wohn- und Lebensräume von Europäer*innen und Chines*innen in der Städteplanung bewusst räumlich voneinander getrennt. [12] Darüber hinaus gab es für Europäer*innen und Chines*innen unterschiedliche Rechtsordnungen, wobei den Chines*innen deutlich weniger Rechte zugestanden wurden. [13]

Der Historiker Mühlhahn führt aus, dass die Mutterländer auch auf kultureller Ebene auf die sogenannten Musterkolonien einwirken wollten, da z.B. „in Qingdao eine mustergültige staatliche Anstalt der Wissensvermittlung und Erziehung geschaffen werden [sollte].“ [14]

Koloniale Gebiete galten vor allem auch in der medialen Außenwirkung des deutschen Kaiserreichs als Musterkolonien, wenn in diesen keine größeren Aufstände oder Protestbewegungen gegen die Kolonialisierungsprozesse der sogenannten Mutterländer zu beobachten waren. [15]

Es lässt sich festhalten, dass in den Musterkolonien das Mutterland gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Pläne und Visionen ausprobiert und umgesetzt hat, die so von der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs wahrscheinlich nicht umsetzbar gewesen wären oder auf Gegenwehr aus der Bevölkerung gestoßen wären. [16] Daher werden die Kolonien in der geschichtswissenschaftlichen Forschung auch als „Laboratorien der Moderne“ [17] bezeichnet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Konzept „„Musterkolonie" […] einen spezifisch deutschen Kolonialismus demonstrieren [sollte], in dem wissenschaftliche Planung, professionelle Ausführung und staatliche Überwachung ein Beispiel für „moderne" und „effiziente" Kolonialpolitik abgeben sollten“ [18].

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Verlust der deutschen Kolonialgebiete erwuchs das Konzept der Musterkolonie z.B. der Kolonie Togos zunehmend zu einem kolonialen Mythos und diente der Überhöhung bzw. Selbststilisierung des deutschen Kaiserreichs. [19]

Der Topos der Musterkolonie diente als vermeintliches Positivbespiel der deutschen Kolonialpolitik und als Rechtfertigung für eine geplante Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Kolonien. [20]

Der Geschichtswissenschaftler Sebald (1988) stellt anhand der ehemaligen Kolonie Togo die These auf, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland der Topos der Musterkolonie als Rechtfertigung für (neo-) kolonialistische Praktiken z.B. in der Politik aufrechterhalten wird und sieht dieses auch in mangelnden (geschichts-)wissenschaftlichen Arbeiten begründet. [21]

Empfehlungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch


Wie bereits dargestellt, ist die Bezeichnung ‚Musterkolonie‘eine Fremdbezeichnung des deutschen Kaiserreiches. Ein bestimmtes Gebiet wurde kolonialisiert und sollte nach spezifischen europäischen Vorbildern gestaltet bzw. an diese angepasst werden, der Begriff ‚Muster‘ bezieht sich hierbei auf europäische Vorstellungen gelungener Kolonien und nicht auf die tatsächlichen Bedürfnisse der kolonialisierten Gesellschaften. Dementsprechend reproduziert dieser Begriff europäische kolonialistische Denkmuster.

Sebald zufolge liegt ein weiteres Problem darin begründet, dass dieser Begriff „suggerierte, daß eine Kolonie mit musterhaften Ergebnissen für die Kolonialherren auch musterhafte Ergebnisse für die kolonial Unterdrückten haben müsse“ [22] .

Folglich werden die eigentlichen Gesellschaften und Gebiete, die unter das Konzept ‚Musterkolonie‘ gefasst werden, auf ihre Anpassungsfähigkeiten an die europäischen Zielsetzungen bemessen und damit endindividualisiert und homogenisiert.

Zudem wurde der Begriff wie bereits dargestellt, als Mythos auch nach der Zeit des Kolonialismus weiterverwendet, um europäische Vorstellungen und europäische Deutungshoheiten zu untermauern. Bei Verwendung dieses Begriffs ist sich bewusst zu machen, dass dieser – wie ausführlich dargestellt – einem zweifelsfrei kolonialistischen Sprachgebrauch entstammt. Somit ist eine Dekonstruktion und kritische Reflexion des Begriffs ‚Musterkolonie‘ zentral.

Verwendete Literatur

[1] https://globalhistory.de/ideologien/kolonialismus/musterkolonie.aspx (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[2] https://globalhistory.de/ideologien/kolonialismus/musterkolonie.aspxl (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[3] https://www.dwds.de/wb/Muster (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[4] https://globalhistory.de/ideologien/kolonialismus/musterkolonie.aspx (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[5] Mühlhahn: Musterkolonie Kiatschaou, S.146.

[6] Vgl. Mühlhahn: Musterkolonie Kiatschaou, S.146.

[7] Jozwiak, Stephanie: https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Die-Entstehung-Der-Musterkolonie-Kiautschou/die-entstehung-der-musterkolonie-kiautschou.html (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[8] Jozwiak, Stephanie: https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Die-Entstehung-Der-Musterkolonie-Kiautschou/die-entstehung-der-musterkolonie-kiautschou.html (zuletzt aufgerufen am 14.11.22).

[9] Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.63.

[10] Vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.63.

[11] Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.91.

[12] Vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.66.

[13] Vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.67.

[14] Mühlhahn: Musterkolonie Kiatschaou, S.245.

[15] Vgl. Sebald: Togo, S.XIII.

[16] Vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.90.

[17] Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S.90.

[18] Mühlhahn: Musterkolonie Kiatschaou, S.11.

[19] Vgl. Sebald: Togo, S.XIV.

[20] Vgl. Sebald: Togo, S.XIV.

[21] Vgl. Sebald: Togo, S.XIV-XXII.

[22] Sebald: Togo, S.XIII.

Zuletzt geändert am 23.11.2022 09:56 Uhr
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