Lateinamerika

Definition

Unter dem Begriff 'Lateinamerika' versteht man die "Gesamtheit der Spanisch und Portugiesisch sprechenden Staaten Mittel- und Südamerikas"¹. Wenn hingegen im deutschen Sprachgebrauch der pauschale Begriff 'Amerika' genutzt wird, sind zumeist die Vereinigten Staaten von Amerika gemeint, während alles was geographisch südlich der 'angelsächsischen' USA gelegen ist, als 'Lateinamerika' bezeichnet wird. Die USA werden demnach zur repräsentativen Norm für ein 'Amerika'. Die restlichen mittel- und südamerikanischen Staaten werden aufgrund ihrer linguistischen Zuordnung zu einer romanischen Sprache, als 'lateinisch' zusammengefasst. Die irrtümlichen Annahmen von Kolumbus führten zudem zur Benennung dieser Gebiete in die Bezeichnung Indias Occidentales (Westindische Inseln), aus der auch die diffamierenden Fremdbezeichnungen der indigenen Bevölkerungen dieser Gebiete 'Indios' oder 'Indianer' entsprangen.²

Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext

Der Name 'Amerika' entstammt aus einer kolonialen Aneignung, benannt nach dem italienischen Seefahrer Amérigo Vespucci, welcher um das Jahr 1501 die ersten von den Europäern eroberten Gebiete der Küste Brasiliens so bezeichnete. Trotz einer möglichen Annahme einer Neutralität des Begriffs für den Doppelkontinent, ist dieser von kolonialer Prägung. Denn mit der Neubenennung und Eroberung der 'entdeckten' Gebiete kamen Zerstörung und Marginalisierung der indigenen Bevölkerungen und ihrer Kulturen einher.

Neben diesen Tatsachen werden diesen Gebieten nach ahistorischen und eurozentrischen Kartographierungen eine vermeintliche Einheitlichkeit zugesprochen, sodass bewusst Machtkonstellationen und eine Vielfalt von Kulturen in diesen Gebieten verneint werden. Somit konnte aus europäischer Perspektive ein Raum imaginiert werden, der einen "unberührten Kontinent"³ mit schon nach europäischen Kriterien hierarchisierten Bewohner_innen darstellte, der Unterwerfungen und die Vorstellungen einer überlegenen 'christlich- abendländischen Zivilisation' legitimierte. Dieses Konstrukt 'Neue Welt' schuf neue Hierarchien und Abstufungen des Menschseins.

Seit dem 17. Jahrhundert entwickelten sich 'zivilisatorische' Vorstellungen zu 'biologisch- rassistischen' Weltbildern, auch im Spektrum der deutschen Philosophen. Nach Immanuel Kants (1724- 1804) Werken Physische Geographie oder Von den verschiedenen Rassen der Menschen werden auch gewisse zivilisatorische Denkgebäude erstellt, welche die Menschheit in Kategorien der Hautfarben oder Rassen einteilen, die sich teleologisch bis in die Gegenwart entwickelt hätten. Es ist zu betonen, dass jene Aussagen in den Texten Kants sich noch in einer Zeit seines "vorkritischen"⁴ Denkens und vor den Denkströmungen des Darwinismus getätigt wurden. Zudem existierte die Vorstellung, dass der von Georg Friedrich Hegel (1770- 1831) definierte 'Weltgeist' durch die 'amerikanischen Länder' nicht erreicht werden könne, solange diese rückständig seien.⁵

Die Idee der 'lateinisch' geprägten Gebiete ist eng verbunden mit dem Konzept der Latinidad. Europäisch stämmige Eliten konstruieren sich selbst als 'weiß' und heben sich von den indigenen Bevölkerungsgruppen ab, während sie gleichzeitig ihren Paternalismus in diesen Gebieten autorisieren und nach rassistischen Prinzipien legitimieren.⁶ Nach dem Diccionario de la lengua española der Real Academia Española wird unter dem Begriff Latinidad die kulturell- lateinische Tradition, der Zustand und Charakter des Lateinischen, sowie die Gesamtheit aller lateinischen Völker verstanden. ⁷

Dennoch muss thematisiert werden, dass dieser Begriff die Folge vom Kolonialismus in lateinamerikanischen Ländern darstellt, im Rahmen der Annäherung an die Ideologie des 'Weißseins'. Trotz aller Nationalitäten, 'Hautfarben', Sprachen oder Identitäten vereinigt dieser Begriff Menschen aus mittel- und südamerikanischen Staaten. Das Ideal der Latinidad misst sich nach dem genealogischen 'Weißsein', Heterosexualität, Wohlstand und einem physisch unbehinderten Körper des Individuums, welches sich damit identifiziert. "The closer a person is to that ideal, the more privileges and access they obtain on a daily basis"⁸. Dennoch hat dieser Begriff mit seiner Pseudo- Solidarität Probleme in seiner fundamentalen Auslegung. So hätten die Nachfahren von Menschen in von Spanien kolonialisierten Gebieten in Amerika mehr Verwandtschaft zu Vorfahren von hispanisierten Indigenen, 'Mestizen' oder Schwarzen als von europäischen Konquistador_innen. Trotz dieser Tatsachen sind die europäischen aufgestellten Hierarchieverhältnisse und 'rassischen' Kategorisierungen deutlich. So beeinflusst die Latinidad und die Nähe zu einem europäischen Vorfahr bis heute lateinamerikanische Gesellschaften. Neben individuellen Konsequenzen wie Depressionen, Selbstzweifel oder Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität kommt es im Kollektiv des Öfteren zu Diskriminierung oder Rassismus, aufgrund dieses Hierarchiesystems. ⁹

In der Gegenwart treten verstärkt indigene Menschen, vor allem in Bereichen Südamerikas, in solidarisch- politischen Organisationen, für das Nutzungsrecht ihrer Ländereien, einer Selbstverwaltung in den jeweiligen Staaten und der Anerkennung ihrer eigenen Kulturen und Traditionen ein. Die kollektive Denomination der Pueblos Originarios bezeichnet die Nachfahren von Menschen der präkolumbischen Ära, welche ihre Kulturen und Identitäten bis in die Gegenwart repräsentieren.¹⁰

Empfehlungen für den gegenwärtigen Sprachgebrauch

Im deutschen mehrheitsgesellschaftlichen Kontext, außerhalb des (post-)kolonialen Diskurses, besteht zumeist noch das Bild, dass Deutschlands Kolonialvergangenheit nicht zu sehr thematisiert werden muss bzw. wird. Daraus resultiert eine bewusste Ausblendung der deutschen Kolonialvergangenheit und der damit sensible Umgang mit dem Gebrauch der deutschen Sprache. Es benötigt deswegen kritische Selbstreflexion, welche hegemoniale Benennungspraktiken wie 'Lateinamerika' oder 'Amerika' hinterfragen tut, da dieser Umgang in der Geschichtskultur weniger Gebrauch findet. Wissensarchive sollten auf koloniale und rassistische Benennungen oder Hintergründe hinterfragt werden.¹¹

Verwendete Literatur

[1] "Lateinamerika", bereitgestellt durch den Duden <https://www.duden.de/rechtschreibung/Lateinamerika>, abgerufen am 30.12.2021.

[2] Vgl. Roth, Julia: "Latein/Amerika". In : Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S. 430- 443.

[3] Vgl. ebenda, S. 433.

[4] Aus: Lieder, Marianna: Kant und der Rassismus 01/2021, veröffentlicht durch das Philosophie Magazin, URL online unter: https://www.philomag.de/artikel/kant-und-der-rassismus-0 (zuletzt abgerufen am 03.01.2022).

[5] Vgl. Roth, Julia: "Latein/Amerika". In : Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S. 430- 443, hier S. 435.

[6] Vgl. ebenda, S. 430- 443.

[7] Vgl. "Latinidad", bereitgestellt durch den Diccionario de la lengua española der Real Academia Española <https://dle.rae.es/latinidad?m=form>, abgerufen am 22.12.2021.

[8] Zitat aus: Martinez, Janel: When it Comes to Latinidad, Who Is Included and Who isn't? 07/2019, veröffentlicht durch die Media Company Remezcla, URL online unter: https://remezcla.com/features/culture/when-it-comes-to-latinidad-who-is-included-and-who-isnt/ (zuletzt aufgerufen am 22.12.2021).

[9] Vgl. ebenda.

[10] Vgl. Roth, Julia: "Latein/Amerika". In : Arndt, Susan (Hg.); Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. 2. Aufl., Münster, 2019, S. 430- 443, hier S. 438- 439.

[11] Vgl. ebenda, hier S. 440- 443.

Weiterführende Lektüre

Salazar, Miguel: The Problem with Latinidad 09/2019, veröffentlicht durch The Nation, URL online unter: https://www.thenation.com/article/archive/hispanic-heritage-month-latinidad/ (zuletzt aufgerufen am 03.01.2022).

Grandas, Ludy: Hispanic, Latino, Latinx. Mehr als nur Etiketten 10/2019, veröffentlicht durch das Goethe- Institut Kolumbien, URL online unter:https://www.goethe.de/ins/bo/de/kul/fok/zgh/21679648.html (zuletzt aufgerufen am 03.01.2022).

Rinke, Stefan: Geschichte Lateinamerikas. Von den frühesten Kulturen bis zur Gegenwart. 2. Aufl., München, 2014.

Zuletzt geändert am 21.03.2022 13:05 Uhr
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