Taubstumme
Inhaltsverzeichnis
- 1 Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten
- 2 Rahmenbedingungen
- 2.1 Die Frühphase der Taubstummenbildung in Preußen
- 2.2 Anstalts- und Schulalltag
- 2.2.1 Lebenserinnerungen des Taubstummenlehrers Hugo Hoffmann
- 2.2.2 Artikel aus der Allgemeinen Schulzeitung 1849, Nr. 187, zitiert nach: Paul Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a/ M. 1940. S. 256f
- 2.2.3 Artikel aus der Allgemeinen Schulzeitung 1849, Nr. 192, zitiert nach: Paul Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a/ M. 1940. S. 257
- 2.2.4 Aus dem Bericht Josef Bachs über seine sechswöchige Besichtigungsreise deutscher Taubstummenanstalten im Jahre 1836, zitiert nach: L. Winnewieser: Lehren der Vergangenheit für unsere Gegenwart. Neue Blätter für Taubstummenbildung, 2.Jahrg. 1947/ 48, Nr.2/ 3 u. 5 (nicht als Zitat kenntlich gemachte Abschnitte sind Ausführungen Winnewiesers)
- 2.2.5 Heinrich Stephani: Über die einfachste und natürlichste Weise, Taubstumme zu unterrichten. In: Bairischer Schulfreund 1815, 8.Bändchen. Zitiert nach:P. Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens, Frankfurt/M. 1947
- 2.2.6 Eduard Walter: Anleitung für Volkschullehrer zur Behandlung taubstummer Kinder vor deren Eintritt in eine Taubstummenanstalt. Berlin 1881, S.4off.
- 2.2.7 M. Hill: Entwurf eines Reglements für das preußische Taubstummenbildungswesen. Weimar 1874
- 2.2.8 Aus dem Kölner Universitäts-Journal 2. 1987, S. 29: Schwefelbäder und Diät. Die Behandlung der Gehörlosigkeit vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart
- 2.3 Medien
- 3 Literatur und Links
Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten
Autoren: Stefan Ginster, Sonja Hack, Tobias Voßemer, Agathe Pawlas, Veronika Bußmann, Lena Reiter, Anna Müller
Entwicklung der "Taubstummen" — Gehörlosen und Schwerhörigenpädagogik: Rückblick
- Schon Aristoteles war in seiner "Thierkunde" der
Ansicht, dass nicht sprechende Menschen auch des Denkens
nicht fähig seien und setzte die Gehörlosen in eine
Kategorie mit den Stumpfsinnigen und Tieren:
"Die Sprache beruht auf der Gliederung der Stimme mittels der Zunge ... Alle Tiere, welche entweder gar keine oder keine freie Zunge haben, entbehren der Sprache. ... Alle Taubgeborenen sind auch stumm, daher haben sie zwar eine Stimme, aber keine Sprache. .." (zit. nach Schumann, 1940: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Diesterweg, Frankfurt a. M.) - Im Mittelalter glaubte man, dass Staub oder Würmer den Gehörgang verstopften oder dass die Gehörlosigkeit eine Strafe Gottes sei
- Lange Zeit wurden gehörlose Menschen für bildungsunfähig gehalten
Die Frühphase der Taubstummenbildung in Preußen
Definition Kinder, die von Geburt an oder in früher Kindheit gehörlos sind, können die Lautsprache nicht ohne besondere Förderung erlernen. Aufgrund dessen nannte man sie fälschlicherweise "Taubstumm".
- Anfänge der Taubstummenerziehung Mitte des 16. Jahrhunderts durch Pedro Ponce de Leon (+1584). Der Benediktinermönch unterrichtet in Spanien als erster Gehörlose in Lautsprache, um diese erbfähig zu machen.
- Unterricht stellte Finanz- und Existenzgrundlage der Lehrer dar
- Geheimhaltung der Methoden: diese wurden teilweise in der Familie weitervererbt
- 1770 Gründung der ersten Schule durch Abbé de l´Epée in Paris: Seine Unterrichtsmethode basierte auf Gebärdenzeichen, einem Handalphabet und der Schrift (manuelle Methode).
- 1778 1. deutsche Schule in Leipzig - Gründer Samuel Heinicke. Er forderte, dass Gehörlose wie Hörende in Lautsprache denken und sprechen sollten (orale Methode)
- Anfangsphase wurde in der Hauptsache durch private Anstalten getragen
- immer stärkeres Auftreten von Einrichtungen führte zur Übernahme der Aufsicht durch den Staat
- gleichzeitig kristallisierten sich 2 Grundmethoden
heraus
- "französische Methode" - Vertreter l‘Epée beinhaltet Gebärdensprache fortgeführt durch Sicard
- "deutsche Methode" - Grundkonzept von Amman weiterentwickelt von Hill und Vatter beinhaltet Lautsprachmethode
- Der Arzt Johann Konrad Ammann (1669-1724) bemerkte beim Sprechunterricht, dass die Vibrationen der Stimme durch Abfühlen empfunden und nachgeahmt werden können.
- die 1. preußische Anstalt wurde 1778 gegründet und 1798 verstaatlicht
- hierdurch Multiplikatorenverfahren möglich (wechselnde Besetzung der 2. Lehrerstelle)
- 1816 erster besonderer Schulunterricht für schwerhörige Kinder durch Gotthard Guggenmoos an seiner "Lehranstalt für schwerhörige und schwersprechende Kinder" in Hallein/ Österreich
- 1828 ministerielle Verfügung der "Bildungsverallgemeinerung"
- Ab den 1820ern setzte sich die "Verallgemeinerung" durch, d.h. das gehörlose Schüler in Volksschulen mitunterrichtet wurden. Gehörlose Kinder sollten von der hörenden Umwelt nicht isoliert werden, im Kreis ihrer Familie aufwachsen und wohnortnah beschult werden. Dies scheiterte an zu großen Klassen, fehlender individueller Förderung und nicht spezifischer Ausbildung der Lehrer.
- 1860 Beginn der Abspaltung der Taubstummenschule aus der Volksschule
- 1870 Gesetz zur Trennung der Taubstummenschulen von den Volksschulen, Aufbau des Sonderschulwesens.
- 1873 Preußisches Dotationsgesetz: Taubstummenschulen werden Provinzialverwaltungen unterstellt. Dies ermöglichte feste Grundsätze und einheitliche Planung.
- Ausbau einer eigenständigen, wissenschaftlich fundierten Lehrerausbildung
- 1880 II. Internationaler Mailänder Kongress (I. Kongress war 1878 in Paris): es wurde beschlossen, die lautsprachliche Methode der manuellen Methode (Gebärdensprache) vorzuziehen. Damit setzte sich Heinickes "deutsche" Methode durch. Daraufhin wurde die Gebärdensprache aus den Gehörlosenschulen verdrängt und alle gehörlosen Lehrer mussten ihren Beruf aufgeben
- Bundesversammlung der Gehörlosenlehrer 1900
Entwicklungen nach 1900
- Nach 1900 war der Absolutheitsanspruch der rein oralen Methode nicht mehr aufrecht zu erhalten.
- Die Forderungen der deutschen Gehörlosenbewegung die kombinierte Methode wieder einzuführen und die gehörlosen Lehrer wieder einzustellen wurden aber bis 1980 nicht ernst genommen.
- erste Schwerhörigenklasse an einer öffentlichen Schule 1902
- erste öffentliche Schwerhörigenschule 1907
- Am 01.04.1902 wird Reinfelder Leiter der ersten, öffentlichen Schwerhörigenklasse Deutschlands. Die Klasse trägt die unglückliche Bezeichnung "Nebenklasse für schwerhörige und schwachsinnige Kinder", was dazu führt, daß nur wenige Eltern ihre Kinder in dieser Klasse unterrichten lassen.
- Im Jahr 1907 wird Reinfelder Leiter der ersten "Hilfsschule(Hörschule) Berlin".
- In dem Zeitraum von 1894 bis zu Beginn des 1. Weltkrieges wurden in allen größeren Städten Deutschlands Schwerhörigenklassen oder —schulen gegründet
- 1926 wird der erste amtliche Lehrplan für Schwerhörigenschulen veröffentlicht
- 2. Weltkrieg: völlige Zerschlagung der Schwerhörigenbildungsorganisation
Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges ändern sich die Zielsetzungen. Primäres Ziel ist es nun, den bestehenden Bestand zu wahren. Gründe waren die globale Wirtschaftskrise, die ablehnende Haltung des Nationalsozialismus gegenüber der Pädagogik und speziell gegenüber Behinderten, die nicht zur Herrenvolksideologie passten.
- 1933 wird der Bund der dt. Taubstummenlehrer zerschlagen und nur ein Jahr später auch der Verband der dt. Hilfsschulen. Trotz dieser Maßnahmen scheuen sich die Nationalsozialisten nicht, im späteren Verlauf des Krieges Schwerhörige für den Einsatz in der Wirtschaft etc. auszubilden.
- Weitere Informationen zur NS-Ära hier.
Rahmenbedingungen und Ereignisse:
- "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (14.07.1933)"
- "Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit" (10.10.1935)
- Schließung und Zusammenlegung von Gehörlosenschulen
- Ausschluss von schwachbegabten Schüler
- Bund der deutschen Taubstummenlehrer wird zerschlagen, ein Jahr später auch der Verband der deutschen Hilfsschulen
- Gegen Ende des 2. Weltkrieges ist die Schwerhörigenbildung als Organisation völlig zerschlagen. Ursachen dafür sind sicherlich fehlendes Personal, fehlende Räumlichkeiten und fehlende Gelder
Entwicklung der Schwerhörigenbildung
- Nach dem 2. Weltkrieg soll das alte Schulwesen wieder aufgebaut werden, wobei man sich an den bereits vorhandenen Formen von Schwerhörigenschulen und -klassen orientiert.
- 1965 wird die Abteilung Sonderschulwesen am Institut für Unterrichtsmethodik der Universität Berlin eingerichtet
- Mitte der 1950er Jahre kann man die Entwicklung der dt. Schwerhörigenbildung kaum zusammenhängend darstellen, weil die Teilung Deutschlands nachhaltig Einfluß auf diese nahm. Die Gemeinsamkeiten finden sich nur noch inhaltlich, jedoch nicht auf der institutionellen Ebene
- Mit der Entwicklung von neuen leistungsstarken Hörhilfen (Hörgeräte) müssen die Behinderungsgrade neu eingeordnet werden.
- Die Forderung nach einer Früherziehung hörbehinderter Kleinkinder kommt auf.
- In den 1960er und 1970er Jahren wird über die Integration Behinderter diskutiert. Diese Forderung kann sich letztlich jedoch nicht durchsetzen
- In der Gegenwart werden trotz eines Anstiegs der Schwerhörigenklassen und -schulen nur ein relativ geringer Prozentsatz von Kindern behinderungsspezifisch betreut und gefördert. Gründe dafür sind oftmals eine nicht eindeutige Zuordnung der Kinder (Gehörlos, Schwerhörig etc.), die Behinderung wird auch heute noch nicht immer erkannt und die bewusste Wahl einer anderen sonderpädagogischen Einrichtung (die Gründe dafür sind unterschiedlicher Art)
- Während der gesamten Entwicklung galt das Hauptinteresse der Herauslösung der Schwerhörigen aus den Gehörlosenschulen.
- In NRW hat sich ein relativ dichtes Netz von Schwerhörigenschulen entwickelt, während in anderen Bundesländern dies nicht der Fall ist.
- Gebiete mit einer sehr geringen Bevölkerungsdichte verwenden meistens ein kombiniertes Modell aus Gehörlosen- und Schwerhörigenschule.
Medien
- PowerPoint-Präsentation "Die Entstehung und
Entwicklung der 'Taubstummen'-Bildung"
Autorinnen: Agathe Pawlas, Veronika Bußmann, Lena Reiter, Anna Müller -> Download
Rahmenbedingungen
Autoren: Christina Arens, Anne Schäfer, Bettina Jungbluth, Dieter Reitemeyer
Die Frühphase der Taubstummenbildung in Preußen
- Die spanische Methode
- nach Pedro Ponce de León (1510-1584)
- Ausgangspunkt: Schriftsprache und Fingeralphabet
- Die französische Methode
- Abbe de l‘Epée (1712-1789)
- Ausgangspunkt: Zeichensprache, Schriftsprache (Fingeralphabet)
- Die deutsche Methode
- Samuel Heinicke (1727-1790)
- Ausgangspunkt: Lautsprache
- Entwicklungsprozeße in der Frühphase der
Sonderpädagogik in Preußen:
erheblich mehr taubstumme Kinder, die unterrichtet wurden, folglich auch mehr Lehrerpotential erstrebte; weithin realisierte Angliederung der Taubstummenlehrerausbildung an die Volksschullehrerausbildung; teilweise integrierte Taubstumme in der Volksschule Einrichtung von Externate zunehmende Lenkung des Taubstummenunterrichts durch das Kultusministerium die allmähliche Durchsetzung der "deutschen Methode".
Zur Methode des Abbé de l´Epée, die "französische Methode"
Im Jahre 1776 veröffentlichte der Abbé ein Buch mit einer umfassenden Darstellung seiner Methode. Seine Schrift trug den Titel: "Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Gebärden, ein Werk, das dem Entwurf zu einer Weltsprache unter Vermittlung natürlicher, methodisch geordneter Gebärden enthält"
Zum theoretischen Hintergrund der Methode
Der Abbé geht davon aus, dass die Gebärdensprache die Muttersprache der Taubstummen ist. Daraus ergibt sich für ihn, dass die Methode der Sprachvermittlung auf der Gebärde aufbauen muss. De l‘Epée selbst schreibt dazu:
"Jeder Taubstumme, den man uns schickt, hat schon eine Sprache, die ihm vertraut ist, und diese allen Menschen gemeine Sprache ist um so ausdrucksvoller, als sie die Sprache der Natur ist. Es ist ihm zur Gewohnheit geworden, sich ihrer zu bedienen, um sich mit den Personen seiner Umgebung zu verständigen, und er selbst versteht alle, welche Gebrauch davon machen. Er offenbart durch sie seine Bedürfnisse, Wünsche‚ Neigungen, Zweifel, Besorgnisse, Befürchtungen, Schmerzen, Kümmernisse usw. usw., und er irrt sich nicht, wenn andere gleiche Gefühle ausdrücken. Er empfängt und führt getreulich die Aufträge aus, die man ihm erteilt, und erstattet genau Bericht darüber. Ausgerüstet haben ihn mit dieser Sprache, und zwar ohne Hilfe der Kunst, die verschiedenen Eindrücke, die er in seinem Inneren empfunden hat. Seine Sprache ist nun die der Zeichen. Man will ihn also unterrichten, und um zu diesem Ziele zu gelangen, muß man ihm die französische Sprache lehren. Welches ist nun dafür die kürzeste und leichteste Methode? Wird es nicht die sein, welche sich der Sprache bedient, die er gewöhnt ist, und in der ihn, wie man wohl sagen kann, die Not erfahren gemacht hat? (...) Wird man ihn nun nicht leicht überall hinführen können, wohin man ihn haben will, wenn man seine Sprache annimmt und sie in die Regeln eines anschaulichen Verfahrens faßt? Das ist in der Tat der Weg, dem wir folgen." (Brand 1910, 17f).
Dieser Weg beginnt mit dem Hand- bzw. Fingeralphabet, das einem neuen Schüler am ersten Schultag beigebracht wird, und zwar wird mit dieser Aufgabe die erste beste Person betreut, die sich dazu findet und die sich der Mühe unterziehen will, wie es heißt. Hat nun der Schüler das Handalphabet in der Regel nach Ablauf einer Stunde erlernt, schreibt er die Buchstaben mit Kreide an die Tafel, wobei ihm die Hand geführt wird. Je nach Anlage wird er schreiben oder kritzeln. Anschließend lernt er die Konjugationen des Zeitwortes "tragen"‚ in der Regel am ersten Tag das Präsens, sehr kluge Schüler die Zeiten bis zum Plusquamperfekt. Als Erohlung ist eine Übung gedacht, bei der dem neuen Schüler auf Wort und Bilderkärtchen die Namen von bis zu 20 Körperteilen in Gruppenarbeit beigebracht werden. Anschließend werden mit Buchstabenkarten die neuen Wörter gelegt. De l‘Epée betrachtet die Leistungen seines neuen Schülers und umarmt ihn, worauf dieser glaubt, dass er schon recht gelehrt sei.
De l‘Epée baut seinen Unterricht auf die methodischen Zeichen auf. Was sind methodische Zeichen? Er selbst schreibt in Bezug auf die Vergangenheitsformen: "... Alsdann lehrt man den Taubstummen, daß er künftig nicht mehr so willkürlich verfahren darf wie bisher. Sonst bewegt er nämlich seine Hände ohne Unterschied ein- oder mehrmals gegen seine Schulter, um etwas Vergangenes auszudrücken; jetzt aber sagt man ihm, daß er es nur einmal tun muß,wenn es sich um die Mitvergangenheit handelt, zweimal wenn es sich um die einfache Vergangenheit handelt und dreimal bei der Vorvergangenheit. Diese Zeichen stimmen wirklich mit der Sprache überein, denn die Vorvergangenheit zeigt eine Tätigkeit an, die weiter zurückliegt als die einfache Vergangenheit, und dasselbe läßt sich überdiese im Verhältnis zur Mitvergangenheit sagen." (Brand 1910, 24f)
"Wir machen die Taubstummen auf die Gelenke der Finger, der Hände, des Ellenbogens, der Schulter, auf das Handgelenk usw. aufmerksam und geben ihnen den Ausdruck Gelenke. Wir schreiben sodann auf die Tafel, daß le (der)‘ la (die)‚ les (Mehrzahl)‚ de, du, des (diese drei sind sog. Teilungsartikel, die im Deutschen nicht ausgedrückt werden) die Wörter verbinden wie die Gelenke unsere Knochen. Nunmehr wird die Bewegung des rechten Zeigefingers, der sich streckt und dann hakenförmig krümmt, das wohlbedachte Zeichen, das wir jedem Artikel geben. Wir drücken die Art desselben aus, indem wir für den männlichen Artikel le die Hand an den Hut heben und für den weiblichen la an das Ohr, wo gewöhnlich der Kopfputz einer Person des schönen Geschlechts endigt. Die Einzahl und die Mehrzahl derselben zeigen wir durch das Fingerzeichen an, das der Einheit oder der Vielheit entspricht." (Brand 1910, 29f).
In der Gebärdensprache nach de l‘Epée werden die Wörter der Verschiedenen Wortarten zusammengesetzt aus den sog. Wurzelzeichen (dem Wortstamm) und entsprechenden methodischen Zeichen, die jeweils einen Artikel, eine Endung, eine Vor- oder Nachsilbe vertreten. De l´Epée erläutert dies am Beispiel des Wortes aimer (lieben): "Dieselbe Tätigkeit oder Beschaffenheit des Geistes, des Herzens oder des Körpers kann bald durch ein Zeitwort, bald durch ein Nennwort, sei es ein Hauptwort oder ein Eigenschaftswort, und zuweilen durch ein Umstandswort ausgedrückt werden. Da es immer dieselbe Tätigkeit oder Beschaffenheit ist, muß notwendigerweise dasselbe Wurzelzeichen damit übereinstimmen. Als Beispiel werde ich das Zeitwort aimer (lieben) in allen seinen Ableitungen, aktiven und passiven, geben: lámitié (die Freundschaft)‚ l‘amour (die Liebe)‚ aimable ( liebenswürdig )‚ ami (Freund)‚ amie (Freundin)‚ amiablement (gütlich)‚ amical (freunschaftlich, Eigenschaftswort)‚ amicalement (freundschaftlich, Umstandswort); alle diese Wörter haben dasselbe Wurzelzeichen, welches darin besteht, daß man die rechte Hand fest auf den Mund legt, während die linke auf dem Herzen ruht, und sodann jene kräftig nach dem Herzen bewegt, wo sie sich mit dieser vereinigt. (...) Wenn ich l‘amitié diktieren will, mache ich zuerst das Zeichen des Artikels und denn das Wurzelzeichen, was genug ist, um erkennen zu lassen, daß ich das Hauptwort fordere. Wenn ich l‘amour schreiben lassen will, mache ich die selben Zeichen wie für l‘amitié, aber ich führe sowohl die Bewegung der Hand nach dem Munde, als auch die nach dem Herzen mit bedeutend größerer Lebhaftigkeit aus, weil die Liebe glühender ist als die Freundschaft. Handelt es sich um das Wort aimable, so mache ich zuerst das Wurzelzeichen und lege dann die rechte Hand auf die linke, um anzudeuten, daß es sich um eine Eigenschaft handelt, die dem Hauptwort hinzugefügt und auf dasselbe bezogen wird, mit einem Worte, daß es ein Eigenschaftswort ist, das ich von ihm verlange. Mit diesem Zeichen muß man nun noch das des Ansichziehens verbinden, weil dieses Wort das bezeichnet, was die Liebe oder die Freundschaft anzieht. Der Ausdruck ami ist korrelativ. Er setzt zwei Personen voraus, die füreinander Freundschaft empfinden. Wenn ich selber einer der beiden Freunde bin, zeige ich auf mich und mache das Wurzelzeichen. Sodann bezeichne ich mit dem Finger die Person, welche mein Freund ist, oder ihren Namen. Danach mache ich zum zweitenmal das Wurzelzeichen und wende die Fingerspitze wieder gegen mich, um anzuzeigen, daß die Freundschaft dieser Person sich auf mich richtet, wie die meinige auf sie. (...) Wir richten also unsere Zeichen so ein, daß nichts nach Willkür gegeben wird; immer muß entweder die Natur oder die Vernunft es sein, die uns beim Schaffen unserer Zeichen leitet." (Brand, 1910,36f).
Zur Gestaltung der Klassenräume
Für den Fall, dass neue Taubstummenanstalten gegründet werden, nennt de l‘Epée zahlreiche detaillierte Vorschläge, wie diese Klassenräume gestaltet und der Unterricht gehalten werden sollte. Damit die Schüler die Wörter, die sie lernen, auch behalten können, sollen die Wände in drei große Flächen eingeteilt und vom Lehrer mit einmal 600 Hauptwörtern, einmal 600 Zeitwörtern und einmal 400 Eigenschaftswörtern beschrieben werden, jeweils in alphabetischer Reihenfolge und mit unauslöslicher Schrift. Auf die freibleibenden Flächen kommen die Fürwörter, die Verhältniswörter und die Bindewörter. Der Raum, den de l‘Epée hierbei in Gedanken zugrunde legt, ist knapp 7,5 m lang und 3,5 m hoch. Ein Streifen von 1,5 m über dem Fußboden bleibt unbeschrieben. Die Schüler lernen täglich in zwei Lektionen je 30 Wörter, d.h. 60 pro Tag, 600 in 10 Tagen und in einem Monat den gesamten Bestand der an der Wand festgehaltenen Worte. Außerdem sollen Tafeln mit Beispielen für die Deklinationen sowie für die Konjugation bereitgehalten werden.
Zum Inhalt des Unterrichts
Inhalt des Unterrichts sind vor allem das Alte und Neue Testament sowie der Katechismus; als Priester lag dies de l‘Epée sehr am Herzen. Die Taubstummen haben seiner Meinung nach von Natur aus kein vaterländisches Interesse und "würden bei dem Bericht über unsere Kriege und der eingehenden Schilderung unserer Revolutionen fortwährend gähnen" (Brand 1910, 91). Für de l‘Epée ist die Bibel Natur-,Geschichts- und Bildungsbuch zugleich.
Zum Sprachunterricht an den Taubstummenanstalten in Deutschland: Die "Deutsche Methode"
Der Hauptinhalt des Schulunterrichts muß der Sprachunterricht sein, "weil durch ihn den Taubstummen der geistige Verkehr mit den Hörenden ermöglicht, die zwischen denselben bestehende Scheidewand gleichsam vernichtet wird, und das Glück des Taubstummen am besten dadurch zu begründen ist, daß ihm das Verständnis und der Gebrauch der Wortsprache verschafft wird." (Hemmes, W.: Lehrplan für eine Taubstummenanstalt mit sechs Jahreskursen‚ Bensheim 1888) Ziel des Sprachunterrichts ist es, den Taubstummen soweit zu bringen, "daß er einerseits das, was deutlich zu ihm gesprochen wird, leicht und schnell absehen, Druck und Kurrentschrift in deutscher und lateinischer Schrift geläufig lesen und die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen anderer, insoweit der sprachliche Stoff seiner geistigen Fähigkeit und seiner Anschauungsreife entspricht, verstehen kann und andererseits eigene Gedanken auf eine möglichst deutliche, klare und richtige Weise mündlich und schriftlich auszudrücken vermag, namentlich auch befähigt werde, gewöhnliche Briefe und leichte Aufsätze abzufassen und niederzuschreiben, sowie sich durch passende Lektüre selbst weiter zu bilden." (Lehrplan)
Eine Taubstummenanstalt sollte damals (1888) aus 6 Jahreskursen bestehen. Es wurden folgende Fächer unterrichtet: Religion, Geographie, Geschichte, Naturkunde und Rechnen. Neben diesen Unterrichtsfächern und auch während des Unterrichts dieser Fächer war aber die Sprachvermittlung oberstes Lehrziel. Der Sprachunterricht war ebenfalls Unterrichtsfach, in der Anfangsklasse wurde sogar ausschließlich Sprachunterricht praktiziert. Der Sprachunterricht unterteilt sich in folgende Fächer:
- Sprechen (Artikulation und Sprechübungen)
- Anschauungsunterricht (Sach- und Sprachunterricht)
- Sprachlehre (Sprachformenunterricht)
- Lesen, Schreiben, Aufsatz sowie den freien Sprachunterricht (Umgangssprache)
1. Sprechen (Artikulation und Sprechübungen)
a) Die Anfangsklasse, hier die 6. Klasse Die 6. Klasse sollte wöchentlich 22 Stunden Sprechunterricht haben. Vor Beginn des Sprechunterrichts müßen gewisse Vorübungen gemacht werden um die Schüler auf die Artikulation vorzubereiten. Die Übungen bestehen hauptsächlich aus Atemübungen und aus der sogenannten Zungengymnastik. Es wurden ebenfalls verschiedene Mundstellungen geübt.
Im Anschluss daran begann der Artikulationsunterricht. Man begann mit den Lauten h, b, d, g, f, s und a. Diese wurden dann zu Silben zusammengestellt. Die übrigen Laute‚ Konsonanten und Vokale folgten dann im Laufe des Schuljahres. Paralell zu den Lauten wurde den Kindern das Schriftbild gegeben. Nach Abschluss des 1. Schuljahres sollen die Kinder auf Fragen wie z.B. ‚ Wer...? ‚ Was...? ‚ Was tut ...? ‚ Was ist ...? ‚ mit einfachen Sätzen antworten können.
b) Die 5. Klasse Die 5. Klasse hat wöchentlich 6 Stunden Sprechunterricht. Hier wurden dann z.B. zweisilbige Worte, Wortendungen und die Dehnung und Schärfung der Vokale geübt (z.B. bei den Worten Lied und Bitte)
c) Die 4. Klasse In der 4. Klasse wurden wöchentlich 4 Stunden Sprechunterricht gegeben. Ziel des Sprechunterrichts in dieser Klasse ist es, die richtige Betonung von Wörtern in Sätzen sowie mehrsilbige Wörter zu erlernen.
d) Die 3. Klasse Hier wurden wöchentlich 2 Stunden Sprechunterricht gegeben. Inhaltlich wurde hauptsächlich der Stoff der 4. Klasse gefestigt.
e) Die 2. Klasse In der 2. Klasse wurden, wie in der 3. Klasse 2 Stunden Sprechunterricht gegeben. Hier wurde hauptsächlich Wert gelegt auf betontes und geläufiges Sprechen von zusammengezogenen und zusammengesetzten Sätzen.
Beispiel zum Ablauf einer Artikulationsstunde anhand des Vokals a und des Konsonanten p:
"Man läßt das Kind den Kopf aufrecht, damit der Luftröhrentopf nicht gedrückt werde, vor sich treten, so daß es bequem in den Mund des Lehrers sehen kann. Man öffnet den Mund soweit, aber auch nicht weiter, als nötig ist, die ruhig und nieder gehaltene Zunge und über dieselbe hin die Gaumenöffnung sehen zu müssen. Diese Mundstellung darf nicht völlig rund sein, sondern die Mundwinkel müßen sich etwas zurückziehen. So läßt man den Schüler seinen Mund nachbilden und hält ihm hierbei einen Spiegel vor, damit er alles an sich selbst beobachten könne, bis seine Mundstellung der des Lehrers völlig gleicht. (...) Dann entblößt der Lehrer seinen Hals und läßt den Schüler die Finger an seinen Kehlkopf legen, auch etwa die andere Hand auf seine Brust, damit er, während der Lehrer einen Laut spricht, die Bewegung dieser Organe fühle. Ist dies geschehen so heißt er den Taubstummen an die Finger an seinen eigenen Kehlkopf zu halten und bedeutet ihm, daß er, wie zuvor der Lehrer, den Mund öffnen und die Luft herausstoßen soll. Bringt er einen Laut hervor, so nickt er ihm Beifall zu und fordert ihn augenblicklich auf, es wieder und wieder zu machen. Kommt kein Laut hervor, so bezeugt man ihm durch eine verdrüßliche Mine und Kopfschütteln Mißfallen und läßt ihn wiederhohlt des Lehrers Kehlkopf anfühlen und mit der Empfindung an dem eigenen Kehlkopf vergleichen." (Jäger, A.: Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder. Band 1 Stuttgart‚ 1843)
Die Konsonanten p und b:
"Der sanfte Lippenverschluß pflegt dem Taubstummen schwerer zu werden, als der Scharfe, indem die Empfindung der durchbrechenden Luft dabei weit geringer ist, wir schicken darum das p voran. Die Lippen werden geschlossen (jedoch ohne daß, wie schon geraten wurde, die Unterlippe an die Unterzähne fest angedrückt würde)‚ zugleich drängt die Luft die Lippen ein wenig vorwärts und durchbricht sie endlich mit Kraft. Dies wird dem Taubstummen vorgemacht, und ihm am Kehlkopf des Lehrers gezeigt, daß kein Ton dabei gegeben werde. Ahmt er es glücklich nach, so wird nach einigen Wiederholungen zur Verbindung mit a, also zu pa und ap übergegengen, sowie später zu po und op, pu und up. Hier erhalten wir dann schon das Wort Papa." (Jäger, A.: Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder. Band 1 Stuttgart‚ 1843)
2. Der Anschauungsunterricht (Sach- und Sprachunterricht)
Ziel des Anschauungsunterrichts ist es den Taubstummen mit Gegenständen und Erscheinungen aus der Natur und dem Menschenleben bekannt zu machen. Der Taubstumme soll durch diesen Unterricht soweit gebracht werden, daß er seine eigenen Gedanken auf eine einfache Weise ohne zu große Schwierigkeiten ausdrücken kann.
a) Die 5 Klasse Hier werden wöchentlich 12 Stunden unterrichtet. Inhalte sind z.B. die Bildung kleiner Sätze mit Angabe von Tätigkeiten und Eigenschaften aber auch Beschreibungen von Gegenständen aus der Umgebung der Kinder sowie das Schulgerät oder die Kleidung.
b) Die 4. Klasse Der wöchentliche Unterricht beträgt hier 10 Stunden. Themen können sein z.B.: Das Haus, die Räume im Haus, die Tiere im Haus oder der Acker, die Wiese usw..
c) Die 3. Klasse Die Unterrichtszeit beträgt hier 8 Stunden in der Woche. Hauptinhalt sind die 4 Jahreszeiten. Unterthemen sind z.B. zum Frühling: Der Garten, der April, Die Kuhblume oder zum Herbst: Die Kartoffel, die Obsternte usw. Die Inhalte des Anschauungsunterrichts können aber auch aus den übrigen Unterrichtsfächern, wie Geographie und Geschichte genommen werden. Hier ein kleines Beispiel zum Anschauungsunterricht. Die Wochentage. Der Sonntag "Der Sonntag ist der erste Tag der Woche. An diesem Tag arbeiten die Landleute und Handwerker nicht; Sie ruhen von ihren Geschäften; Die Kinder gehen Sonntags nicht in die Schule; Sie und die Lehrer ruhen auch; Der Sonntag ist ein Ruhetag; Die meisten Leute gehen am Sonntag in die Kirche; Sie singen und beten da. Der Geistliche predigt und die anderen Leute hören zu." (aus "Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder, Band 2")
Der Montag "Der zweite Wochentag heißt Montag. Die Leute gehen an diesem Tage wieder zur Arbeit; Die Schreiner hobeln und sägen in ihren Werkstätten; Die Bauern arbeiten auf dem Felde usw. ‚ die Leute verrichten am Montag allerlei Werke; der Montag ist ein Werktag." (aus "Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder, Band 2")
3. Die Sprachlehre (Sprachformenunterricht)
Die Sprachlehre ist eine Art des Grammatikunterrichts, durch den die Taubstummen Einsicht in die Regeln und Gesetze der Sprache bekommen sollen.
a) Die 5. Klasse In der 5. Klasse werden wöchentlich 3 Stunden Sprachlehre unterrichtet. Inhalte des Unterrichts in dieser Jahrgangsstufe sind unter anderen: Bestimmte und unbestimmte Artikel, die Fragen Wen ? und Was ? ‚ Wohin ? ‚ Woher ? und Wann ?
b) Die 4. bis 1. Klasse In diesen Jahrgangsstufen werden jeweils 3 Wochenstunden Sprachlehre unterrichtet. Gelehrt werden in diesen Stufen z.B. Die Vergangenheit, die Zukunft, bestimmte Frageformen, Deklinationen, Ergänzungssätze, die Zahlwörter.
4. Lesen, Aufsatz und freier Sprachunterricht
Die drei letzten Unterrichtsfächer des Sprachunterrichts möchte ich nur kurz skizzieren. Das Ziel des Leseunterrichts ist es die Sachkenntnis des Schülers zu bereichern und zu vervollständigen. Ebenso soll durch das Lesen das Gemüt und der Willen des Schülers erfaßt und ausgebildet werden. Gelesen wurde in den beiden letzten Jahrgangsstufen, einmal 5 Wochenstunden und in der 1. Klasse 4 Wochenstunden. Inhalte waren kleine, oft umgearbeitete Lesestücke. So z.B. "Gefunden" von Goethe, "Der Sperling", "Die Schlüsselblume" oder auch "Rotkäppchen".
Das Unterrichtsfach Aufsatz hatte das Ziel die Schüler zu betafligen, ihre Gedanken und Gefühle klar, in logischer Ordnung und sprachlich richtig in schriftlicher Form darzustellen. Der Aufsatz wurde in den Jahrgangsstufen 3, 2 und 1 unterrichtet. Die wöchentliche Stundenzahl betrug 2, bzw. 3 Stunden. Die Schüler sollten kleine Tagesberichte erstellen in denen sie ihre Erlebnisse erzählten. Weiterhin schrieben die Schüler Briefe und Geschäftsaufsätze wie Anzeigen, Rechnungen, Dienstzeugnisse und Schuldscheine. Im freien Sprachunterricht lernt der Taubstumme Gesundheits- und Anstandsregeln und der Unterricht verschafft ihm die nötige Einsicht über verschiedene Einrichtungen, Verhältnisse und Ereignisse im bürgerlichen, staatlichen und Verkehrsleben, worüber Hörende durch ihre Umgebung während und nach ihrer Schulzeit zufällig und absichtlich informiert werden. Der freie Sprachunterricht wurde ab der 5. Klasse bis hin zur 1. Klasse mit 2 Wochenstunden bedacht. Der freie Sprachunterricht hatte eigentlich keine festen Inhalte. Die Schüler sollten alles, was sie erlebt hatten in den Unterricht einfließen lassen um dann darüber zu sprechen. In der Abschlussklasse sollten dann auch die Zeitungsmeldungen im "Kreisblatt" Inhalt des freien Sprachunterrichts sein.
Anstalts- und Schulalltag
Lebenserinnerungen des Taubstummenlehrers Hugo Hoffmann
Will man näheres über den beruflichen Werdegang eines Taubstummenlehrers im letzten Jahrhundert erfahren, so bietet sich hierzu vorzüglich die folgende Quelle an: "Die Lebenserinnerungen des Taubstummenlehrers Hugo Hoffmann", erschienen im 14. Jahrgang der Zeitschrift EOS (Vierteljahresschrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher Abnormer) 1918. Die Zeitschrift kann in einigen Universitätsbibliotheken gefunden werden.
Auszug einzelner Etappen des beruflichen Werdegangs Hoffmanns:
Hoffmann wurde am 12 Juli 1857 in Haynau (Schlesien) als Sohn eines Unterbeamten geboren. 1874 begann er in dem Städtchen Sagan seine dreijährige Ausbildung als Volksschullehrer. Seine Seminarzeit gliederte sich in zwei Jahre Internats- und ein Jahr Externatsleben. Außer in den Pflichtfächern wurde er auch in den Wahlfächern Musik und Fremdsprachen unterrichtet. 1877 legte er seine Abgangsprüfung erfolgreich ab und verließ das Seminar. Im selben Jahr trat er seine erste Stelle als Hilfslehrer in einem kleinen Dorf Namens Mertschütz an. Er hatte dort einen schweren Stand, denn der Dorflehrer, dem er als Adjuvant zugeteilt war, war nur sehr ungern bereit ihn auf zunehmen, war er doch verpflichtet Hoffmann Kost und Logis zu gewähren und ihn von seinem kargen Lohn zu bezahlen. Zwar steuerte die Gemeinde und einige Gutsherren ihren Teil zum Lohn des Hilfslehrers bei, jedoch traf es den Dorflehrer besonders hart, denn sein Lohn war karg genug bemessen. Nicht nur der Dorflehrer bereitete Hoffmann durch seine ablehnende Haltung Verdruß. Schon bald nach seiner Ankunft geriet er mit dem Dorfpfarrer aneinander, der zugleich die Stelle des Ortsschulinspektors bekleidete. Er inspizierte bisweilen Hoffmanns Unterricht, ohne jedoch jemals einen Kommentar dazu abzugeben. Die aufkeimenden Streitigkeiten hatten vielmehr ihre Ursache darin, daß Hoffmann entgegen der ausdrücklichen Mahnung des Pfarrers, zuweilen ins Wirtshaus ging. Zudem führte er die ihm übertragenden Kirchendienste nicht zur vollen Zufriedenheit aus. Die Kirchendienste beinhalteten das Anschreiben der Kirchenliedernummern am Sonntag, sowie die regelmäßige musikalische Begleitung der Gottesdienste an der Orgel. Über einen Mangel an Arbeit konnte Hoffmann sich wahrlich nicht beklagen. Von den drei Schulklassen der Dorfschule wurden ihm zwei übertragen, in denen er insgesamt 36 Wochenstunden Unterricht erteilte. Damit überschritt er das vorgeschriebene Unterrichtssoll um vier Stunden. Er berichtet, daß die Mittelklasse 77 und die Unterklasse 65 Schüler hatte. Angesichts dieser Verhältnisse bemühte er sich schon bald um eine neue Stelle. Der Dorfpfarrer stellte ihm ein Zeugnis aus, mit dem er sich an verschiedenen Orten bewarb. In den kommenden Jahren wechselte er noch öfters die Stellung. Das niedrige soziale Ansehen, dass er in seinem Beruf besaß empörte ihn stets aufs Neue. Schließlich trat er im August 1880 die Stelle als Hilfslehrer in der Ratiborer Taubstummenanstalt an. Diese Anstalt hatte den Status einer Privatanstalt und wurde durch einen Verein verwaltet. Da aber die Geldmittel des Vereins zum Unterhalt der Schule nicht ausreichten, erhielt sie Zuschüsse durch die Provinz. Hoffmann berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß er bei Amtsantritt Erfahrungen im Umgang mit taubstummen Schülern nur durch einige Hospitationen im Unterricht einer taubstummen Klasse besaß. Der Direktor der Ratiborer Taubstummenanstalt, dem die Ausbildung des neuen Hilfslehrers oblag, vernachlässigte diese Aufgabe und überließ es Hoffmann, sich als Autodidakt weitgehend selbst in die neue Materie einzuarbeiten. Im Jahre 1882 legte dieser allen Schwierigkeiten zum Trotz in Breslau erfolgreich seine Prüfung als Taubstummenlehrer ab. In den nun folgenden Jahren begann er sich schriftstellerisch zu betätigen und veröffentlichte regelmäßig Artikel in Fachzeitschriften.
Artikel aus der Allgemeinen Schulzeitung 1849, Nr. 187, zitiert nach: Paul Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a/ M. 1940. S. 256f
"Unter den in Preußen ermittelten 11497 T. (Taubstummen, Anm. des Autors) befinden sich 2739 im Alter von 5—15 Jahren. Davon erhalten in den 21 Anstalten Unterricht 620, das ist der vierte Teil der im schulpflichtigen Alter Stehenden. Wieviel bleibt da noch zu tun? Gewöhnlich sind die T=anstalten mit den Lehrerseminaren verbunden, um die Seminaristen mit der Ausübung dieses Unterrichts bekanntzumachen. Man hat indes die Erfahrung gemacht, daß von solchen Lehrern im Amte die T. nie eine vollständige Ausbildung‚ sondern nur eine angemessene Vorbildung für eine T=anstalt erhalten. Woran liegt hier die Schuld ? In der Provinz Brandenburg besteht schon seit Jahren die gute Einrichtung, daß jährlich eine Anzahl Volkschullehrer in der Anstalt zu Berlin mit dem T=unterricht bekanntgemacht werden. Der Kursus dauert jeden Sommer sechs Wochen. Solche Lehrer werden remuneriert. Das Kgl. Schulkollegium läßt die Leistungen alljährlich kontrollieren. Diese Einrichtung hat sehr gute Erfolge gehabt. Von den 151 auf diese Weise gewonnenen T=lehrern sind gegenwärtig 73 in Wirksamkeit, so daß von 246 schulpflichtigen T 1847 nur 115 ohne sachgemäßen Unterricht waren, wiewohl auch sie die Ortsschule besuchten. Träfe man in allen Provinzen eine solche Einrichtung und sorgte man dabei für die Remuneration der Lehrer- gewiß- es würde bald dem Unterrichtsbedürfnis der T in Preußen entsprochen werden."
Artikel aus der Allgemeinen Schulzeitung 1849, Nr. 192, zitiert nach: Paul Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a/ M. 1940. S. 257
"Von mehreren preußischen T=lehrern ist folgende Petition an die 2. Kammer zu Berlin eingesandt worden: Trotz der vorhandenen T=anstalten bleibt noch eine nicht unbeträchtliche Anzahl von t Kindern von der Wohltat einer entsprechenden Schulbildung ausgeschlossen. Indem wir im Interesse des Staates wünschen, daß fortan jedes t Kind eine ausreichende Schulbildung genießen möge und indem wir uns zugleich die Ursachen vorhalten, warum dies bisher nicht der der Fall gewesen, bitten wir eine hohe Kammer ehrfurchtsvoll, gesetzlich feststellen zu wollen a) daß jedes t bildungsfähige Kind die zur Konfirmation nötige Schulbildung erhalten müsse, b) daß darum in den Fällen, wo die betroffenen Angehörigen die zur Ausbildung ihrer Kinder nötigen Geldmittel nicht selbst aufzubringen imstande sind, die Ausbildung auf öffentliche Kosten, z.B. wie in der Provinz Sachsen auf Kosten der landrätlichen Kreise, zu bewirken sei."
Aus dem Bericht Josef Bachs über seine sechswöchige Besichtigungsreise deutscher Taubstummenanstalten im Jahre 1836, zitiert nach: L. Winnewieser: Lehren der Vergangenheit für unsere Gegenwart. Neue Blätter für Taubstummenbildung, 2.Jahrg. 1947/ 48, Nr.2/ 3 u. 5 (nicht als Zitat kenntlich gemachte Abschnitte sind Ausführungen Winnewiesers)
Bei Johann Josef Gronewald in Köln.
"Die Anstalt in Köln verdankt Ihr Entstehen einem Verein edler Menschenfreunde,welcher zur Zeit 376 Mitglieder zählt, von denen jedes einen jährlichen Betrag von zwei Talern bezahlt." Bach zählt 36 Zöglinge in drei Klassen zu je zwei Abteilungen. "Jeder Lehrer hat wöchentlich 27 Stunden Unterricht... An Sonntagen haben die schon entlassenen Zöglinge zwei Stunden Unterricht im Lesen, Rechnen und in der Anfertigung schriftlicher Aufsätze.... Auch erhalten diese Zöglinge an den Sonntagen noch eine Stunde Religionsunterricht von dem Geistlichen der Anstalt."... "Die Lehrer dieser Anstalt fahren nämlich gleich anfangs,sobald der Schüler das kleine Alphabet schreiben gelernt hat, mit dem Sprachunterrichte fort und betreiben den Sprechunterricht ganz abgesondert von ersterem."... "Eine vortreffliche Übung in dieser Anstalt besteht darin,daß die Zöglinge streng angehalten werden,sich immer nur mündlich, ohne alle Gebärde,auszudrücken."...
Bei E. Aeplinius in Halberstadt
Halberstadt hat eine sogenannte Seminar—Taubstummenanstalt und verdient deswegen besonderes Interesse: Je fünf bis sechs Seminaristen besuchen jeden Nachmittag von 1-4 Uhr den Unterricht in der Taubstummenschule "und zwar so, daß jede Stunde sechs andere eintreten und jeder wöchentlich zweimal an die Reihe kommt, anfangs den Unterricht mit anhört und später selbst unterrichten hift."... "Herr Aeplinius sagte, daß das erste Jahr bloß hinreiche,diese Leute die Schwierigkeit des Taubstummenunterrichts einsehen zu lehren und daß sie erst später...Lust und Freude dazu fühlten und endlich etwas Ordentliches leisten lernten."
Aeplinius gibt den Seminaristen auch eine Wochenstunde theoretischen Unterricht.
"Auf meine Bemerkung,ob den Seminaristen bei ihrer künftigen Anstellung auch Gelegenheit gegeben werde, Taubstumme unterrichten zu können, erwiderte Ae., daß sich schon mehrere Beispiele vorfanden, wo entlassene Seminaristen an ihrem Wirkungsorte Taubstumme unterrichteten. Sie hätten durchaus nicht die Verpflichtung, dies zu tun. Die Lehrer unterrichten die taubstummen Kinder, soweit es angeht, gemeinschaftlich mit den hörenden, geben ihnen aber noch täglich ein bis eineinhalb Stunden Privatunterricht.“
Bei Karl Wilhelm Saegert in Magdeburg
Saegert gibt den Seminaristen wöchentlich eine Stunde theoretischen Unterricht, der neben den üblichen Unterrichtsbesuchen in der Taubstummenschule die Seminaristen für den Taubstummenunterricht befähigen soll. Bach fragt, inwieweit dies gelinge; Saegert erwidert, "daß ein Fünftel davon für den Unterricht hinlänglich befähigt werde, die Hälfte der übrigen denselben so ziemlich verstehen lerne,und die andere hälfte wenigstens Nutzen für den Elementarunterricht daraus ziehe."
Vorweggenommen sei hier die Antwort F.M. Hills auf dieselbe Frage Bachs (...)‚ die interessanter ist ‚ weil...Hill antwortete, "daß er glaube, die Seminaristen lernten größtenteils soviel vom Taubstummenunterricht verstehen, daß sie fähig wurden, die Taubstummen in ihrem Geburtsort wenigstens zur Aufnahme in das Institut vorzubereiten ... jedoch stünde es mit der Anstellung dieser jungen Leute...sehr schlecht. Zudem seien die Volksschullehrer im Regierungsbezirk Merseburg größtenteils noch sehr gering besoldet, wozu noch der Übelstand käme, daß die Lehrer daselbst jeden Tag bei einem anderen Bürger ihre Verköstigung hätten, ebenso auch die Schule bald da, bald dort halten müßten. Zufolge dieser mißlichen Verhältnisse, und weil die Schullehrer auch nicht für die Unterweisung der Taubstummen ausgebildet werden würden, hätten sich bisher nur sehr wenige der im Seminar für den Taubstummenunterricht gebildeten Lehrer damit befaßt."
Heinrich Stephani: Über die einfachste und natürlichste Weise, Taubstumme zu unterrichten. In: Bairischer Schulfreund 1815, 8.Bändchen. Zitiert nach:P. Schumann: Geschichte des Taubstummenwesens, Frankfurt/M. 1947
"Die T (Taubstummen, Anm. des Autors) für die Menschheit und die bürgerliche Gesellschaft auf die naturgemäßeste, einfachste und daher überall leicht auszuführende Weise gehörig auszubilden, braucht man keine kostspieligen Anstalten, die doch nur soweit reichen, um einen geringen Teil der vorhandenen T zu unterrichten. Für alle T dergleichen Institute einzurichten, würde einen ungeheuren Aufwand erfordern... Die Hauptaufgabe für den T=unterricht besteht darin, sie für die Schriftsprache zu befähigen; zu der dazu notwendigen, ihr korrespondierenden alphabetischen Sprache genügt die Fingersprache, deren Kenntnis durch in allen Volksschulen angeordnete, dem Schreibunterricht vorangehende Buchstabierübungen sowie durch Volkskalender aufs schnellste durchs ganze Reich verbreitet werden könnte. Die auf Fingersprache und Schriftsprache aufbauende Methode ist so leicht, daß jeder Geistliche und Schullehrer imstande ist,die in seinem Bezirk lebenden T zu unterrichten, ohne daß es nötig wäre,diese ihren Familien, den gewohnten Umgebungen und damit ihrer künftigen Bestimmung zu entreißen und sie auf eine kostspielige Weise in besonderen Instituten zu erziehen."...
Eduard Walter: Anleitung für Volkschullehrer zur Behandlung taubstummer Kinder vor deren Eintritt in eine Taubstummenanstalt. Berlin 1881, S.4off.
"Die Taubstummen=Anstalten sind entweder Staats= oder Provinzial= oder Privat=Anstalten. In jeder derselben befindet sich eine größere oder geringere Zahl von Freistellen für unvermögende Taubstumme. Bemittelte Eltern haben nach Maßgabe ihres Vermögens den ganzen oder teilweisen Betrag des Unterhaltsgeldes zu zahlen. Die Aufnahme wird meistens durch die Landratsämter vermittelt... Die Anstalten nehmen die taubstummen Kinder am liebsten an, wenn diese bei normaler Körperentwicklung das siebzehnte Lebensjahr vollendet haben und behalten sie nach Vorschrift des Verwaltungsreglements 6-7-8 Jahre. Nach vollendetem zwölften Lebensjahre kann die Aufnahme nur ausnahmweise erfolgen... Die Taubstummen=Anstalten gewähren den Zöglingen vollständige Pflege entweder in denselben‚ wenn sie Internate, oder außerhalb wenn sie Externate sind, Unterricht, Lehrmittel und in der Regel auch Kleidung. Der Zweck der Taubstummenbildung ist derselbe, den die Volkschule anstrebt, nämlich der, aus den Taubstummen sittlich=religiöse und bürgerlich=brauchbare Menschen zu machen. Mit Ausnahme des Gesanges werden in den Taubstummen=Anstalten dieselben Unterrichtsgegenstände gepflegt, wie in der Volksschule. Im besonderen machen es sich jene zur Aufgabe, ihren Zöglingen die Lautsprache auf künstlichem Wege, durch Vemittelung des Gesichtes und Gefühles, zu geben.
Nach Absolvierung eines 7—8 jährigen Kursus sind die Taubstummen in der Regel imstande, sich mündlich und schriftlich allgemein verständlich auszudrücken, zugleich haben sie sich diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet, die man von einem Schüler der Volksschule erwarten darf. Nach Entlassung der taubstummen Zöglinge aus dem Unterrichte, der bei den evangelischen Zöglingen die Konfirmation vorausgeht, übernimmt die Anstalt keine Verpflichtung in Betreff des weiteren Fortkommens, wenn sie auch dauernd das Wohl und Wehe ihrer ehemaligen Zöglinge im Auge behält, die geistige, sittliche und religiöse Fortbildung derselben nach ihrem Vermögen überwacht und ihnen jederzeit eine treue Ratgeberin bleibt."
S. 20/22: "Er beschäftige sich in der ersten Zeit nicht zu viel mit ihm. Er möchte sonst, sobald es sich als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit seiner Mitschüler sieht, ängstlich und scheu werden, überlasse es vielmehr, sobald es auf seinem Platze angelangt ist, möglichst sich selbst oder beschäftige es durch andere, ihm bekannte Kinder,damit es in der Schule erst heimisch werde...."
"Der Lehrer suche bei seinem Unterrichte möglichst die Gebärdensprache zu vermeiden, beschränke sich vielmehr bei seinen Belehrungen auf das Vorzeigen, Vormachen und auf die Anwendung der Lautsprache."... "Es ist unglaublich, wie schnell Versuche einer Verständigung mit Taubstummen durch Absehen vom Munde Sprechender seitens dieser gelingt. Da die Taubstummen=Anstalt die Aufgabe verfolgt, den Taubstummen die Lautsprache als Denk= und Mitteilungsmittel zu geben und die Gebärdensprache gänzlich entbehrlich zu machen, so kann die Einführung in die erstere nicht früh genug eintreten. Der Erfolg dieser Art der Mitteilung wird ein um so erfreulicher sein,je mehr die Eltern dieselbe schon gepflegt haben.
M. Hill: Entwurf eines Reglements für das preußische Taubstummenbildungswesen. Weimar 1874
A. Bestimmungen die Schulbildung der taubstummen Kinder betreffend.
Das göttliche Gebot, die Humanität und das Interesse des Staates fordert, auch den Taubstummen die Wohltat einer angemessenen Schulbildung zu gewähren. Dieselbe ist zu erstreben: I. durch die gewöhnlichen Volksschulen II. durch besondere Taubstummenanstalten.
I. Die Vorbildung der taubstummen Kinder in den
gewöhnlichen Volksschulen
1. Die taubstummen Kinder haben nach vollendetem 6. Jahre die Volksschule des Wohnortes unter denselben Bedingungen wie die hörenden Kinder bis zum vollendeten 14. Jahre zu besuchen. 2. In mehrklassigen Volksschulen hat der Lehrer der Elementarklasse die tbst. Kinder aufzunehmen und wenigstens während der ersten 2 Schuljahre zu beschäftigen. 4. Es ist nicht erforderlich,dass die tbst. Kinder an allen Lehrstunden der Volksschule Theil nehmen. 9. Im Allgemeinen handelt es sich bei dem Besuch der Ortsschule seitens der tbst. Kinder nur darum, diese für den späteren Eintritt in eine Tbst.-Anstalt möglichst vorzubereiten. 10. Sofern der Lehrer seinen tbst. Schulkindern nicht ausser den Schulstunden noch Privatunterricht ertheilen vermag, wird sich seine Fürsorge für eine zweckmässige Vorbereitung auf folgendes beschränken müssen: a) Gewöhnung an die Ordnung, Zucht und Sitte der Schule b) geistige Anregung durch Vermittelung vielfachen Verkehrs mit den hörenden Schulkindern c) Uebung im mechanischen Schreiben g) gelegentliche Pflege der Stimme und Ablockung einzelner Laute.
II. Die Schulbildung der taubstummen Kinder in den
besonderen Taubstummen-Anstalten
Errichtung und Unterhaltung der Anstalten. 1. In allen Provinzen des Staates ist die Fürsorge für die Tbst., insbesondere die Einrichtung und Unterhaltung der Tbst,-Anstalten den ständischen Verbänden anheim gegeben. Der Staat tritt hierfür nur in dringenden Notfällen mit seinen Mitteln ein. 2. Es ist Aufgabe der Provinzial-Vertretung jedem tbst. Kinde der Provinz eine ausreichende Schulbildung durch den Eintritt in eine Tbst.-Anstalt zu ermöglichen, deshalb also auch eine dem Bedürfnisse entsprechende Anzahl von Tbst.-Anstalten zu errichten.
Aufnahme und Entlassung der Zöglinge. 3. Haben die tbst. Kinder das Alter Von 7-8 Jahren erreicht, so sind sie, sofern nicht auf andere genügende Weise für ihre Schulbildung Sorge getragen wird, oder ihre Bildungsunfähigkeit nicht constatiert ist, einer Tbst,-Anst. zur Fortsetzung des Schulunterrichts zu überweisen.
Aus dem Kölner Universitäts-Journal 2. 1987, S. 29: Schwefelbäder und Diät. Die Behandlung der Gehörlosigkeit vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart
"Schwefelbäder, Schwitzen und Diät sowie das Behängen der Ohren mit heißgebackenen Kümmelbrötchen empfahl der französische Arzt Lazare Riviére im 17. Jahrhundert gegen erworbene Taubheit, um das "Gehirn zu stärken und den Eiter im Ohr aufzulösen". Heutzutage wird die Gehörlosigkeit vor allem durch vorbeugende Maßnahmen während der Schwangerschaft, Säuglingsvorsorgeuntersuchungen und die frühzeitige Anpassung von Hörgeräten bekämpft. Fehlt die Fähigkeit zur akustischen Wahrnehmung ganz, spielt eine frühzeitig einsetzende intensive Betreuung eine besondere Rolle. Thomas Stichnoth zeichnet in seiner am Institut für Geschichte der Medizin abgeschlossenen Untersuchung "Taubstummheit" ein Bild von der medizinischen Behandlung der Gehörlosigkeit vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Alle die Gehörlosigkeit betreffenden Probleme sind vor dem Hintergrund der kleinen Zahl der Betroffenen (0,1 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung) zu sehen, die bedingt, daß viele Fragen zu sozialmedizinischen und rehabititativen Besonderheiten der Taubheit noch nicht untersucht sind. Schließlich stellt sich auch für einen Arzt die Kommunikation mit einem Gehörlosen äußerst schwierig dar.
Zwar lernen die Betroffenen in Gehörlosenschulen die Lautsprache, um sich auch in der "Welt der Hörenden" zurechtfinden zu können. Aber auch nach erfolgreicher Schulung kann der Behinderte nicht mehr als 30 Prozent der an ihn gerichteten Informationen vom Mund seines Gesprächspartners ablesen. Den Rest muß er mit Hilfe seines Denkvermögens und seiner persönlichen Erfahrung erschließen.
Bereits Aristoteles hatte erklärt, daß er das Ohr für das wichtigste Organ der Belehrung und folglich taube Menschen für schwerer erziehbar halte als etwa Blinde. Später interpretierte man diese Aussage als dahingehend, daß Gehörlose gänzlich bildungsunfähig seien. Es verfestigte sich ein Vorurteil, das durch den anatomischen Trugschluß, das Hör- und Zungennerv miteinander verbunden seien, noch verstärkt wurde. Über Jahrhunderte unternahm man keine Versuche mehr, taube Menschen zu unterrichten. Erst nach den Erfolgen des Gehörlosenlehrers Pedro Ponce im 16. Jahrhundert, dem die Ausbildung Gehörloser sehr wohl gelang, setzte sich eine andere Auffassung durch.
In Deutschland begannen die Gehörlosenlehrer damit, ihren Schülern die Lautsprache zu vermitteln. Um den Erfolg ihrer Bemühungen nicht zu gefährden, untersagten die Pädagogen ihren Schülern, sich mittels der Gebärdensprache zu verständigen. Die "Deutsche Methode" setzte sich dann im 19. Jahrhundert - nach dem Aufstieg des Kaiserreiches zur europäischen Großmacht - auch in anderen Ländern durch. Heute noch lernen Gehörlosenlehrer während ihrer Ausbildung die Gebärdensprache nicht, so daß dieses so hilfreiche Zeichensystem bis in unsere Zeit die "inoffizielle Sprache" der Gehörlosen geblieben ist; trotz ihrer relativ geringen informatorischen Effizienz. Auch unsere Schriftsprache stellt - wie so oft angenommen - keine Hilfe im Gedankenaustausch mit dem Gehörlosen dar, denn auch sie ist in erster Linie ein Produkt unserer Lautsprache, und damit für einen von Geburt tauben Menschen nur schwer zu erlernen. (unik)"
Medien
Folgende Bildmedien sind dem Schularchiv der Immenhofschule
Stuttgart am 27.06.2003 entnommen:
Johannes Wagner - 1. Rektor der Schwerhörigenhilfsschule
Stuttgart von 1914-1943
Hörschlauch (ca. 1920)
Preisliste Hörschlauch (ca. 1920)
Lautanbahnung mit Hilfe des Lehrers und einem
Sprechspiegel (um 1920)
Unterricht in den Anfängen der Immenhoferschule (ca. 1920)
"Ohrenbrille" zur Verstärkung des gesprochenen Wortes (ca.
1920)
Zwei Phillips-Hörgeräte mit Batteriebetrieb (ca. 1950)
Literatur und Links
- Bangert, O.: Hervorragende Gestalten in der Taubstummenbildung. 2. Samuel Heinicke. In: Högeschädigte Kinder‚ 1966
- Brand, G.: Die Unterweisung der Taubstummen durch die methodischen Zeichen. Stade 1910
- Hemmes, W.: Lehrplan für eine Taubstummenanstalt mit sechs Jahreskursen ‚ Bensheim 1888
- Hill, M.: Entwurf eines Reglements für das preußische Taubstummenbildungswesen. Weimar 1874
- Hoffmann, H.: Die Lebenserinnerungen des Taubstummenlehrers Hugo Hoffmann. Erschienen im 14sten Jahrgang der Zeitschrift EOS, 1918
- Jäger, A.: Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder. Band 1 Stuttgart‚ 1843
- Jäger, A.: Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder. Band 2 Stuttgart‚ 1846
- Jussen, Heribert: Die Taubstummenanstalt zu Brühl. Ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Volksbildung im Rheinland zwischen 1854 und 1938, Brühl 1998 (=Beilage zu den Brühler Heimatblättern. 55. Jg., 1998, H. 3)
- Klöcker, Michael: Die Frühphase der staatlichen Sonderpädagogik (Im Bereich der "Taubstummen"-Bildung) in Preußen. Skizzierung der Entwicklungsprozesse und Dokumentation im Rahmen eines Reiseberichtes von 1835, in: Information zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung, H. 15/16 (1981), S. 39-86
- Kratzmeier, H.: Abbé de l‘Epée, Meisterlehrer und Lehrmeister. In: Neue Blätter für Taubstummenbildung 1963
- Lesemann G. (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte und Entwicklung des deutschen Sonderschulwesens. Berlin, 1966
- Löwe, Armin: Gehörlosenpädagogik, in: Solarova,Svetluse (Hrsg.): Geschichte der Sonderpädagogik, Stuttgart etc. 1983
- Möckel, Andreas: "Geschichte der Heilpädagogik". Klett-Cotta, Stuttgart 1988
- Müller, R. J./ Hans M. (Hrsg.) Hörgeschädigte in der Schule. Berlin, 1998
- Schuhmann, P.: Das Taubstummenbildungswesen. In: Handbuch des Taubstummenbildungswesens‚ 0sterwiek am Harz 1929
- Schumann, P.: Geschichte des Taubstummenwesens vom deutschen Standpunkt aus dargestellt. Frankfurt a/ M. 194o. S. 256f
- Thurnburg, Sabine: Blinde, Taubstumme und Geisteskranke in der Rheinprovinz 1822-1891. Phil. Diss. (masch.), Köln 1992
- Universität zu Köln: Schwefelbäder und Diät. Die Behandlung der Gehörlosigkeit vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Kölner Universitäts-Journal 2, 1987, S. 29
- Walter, Eduard: Anleitung für Volkschullehrer zur Behandlung taubstummer Kinder vor deren Eintritt in eine Taubstummenanstalt. Berlin 1881
- Wisotzki, Karl Heinz: Grundriß der Hörgeschädigtenpädagogik, Berlin 1994, Bd. 4
Links
- PowerPoint-Präsentation "Die Entstehung und
Entwicklung der 'Taubstummen'-Bildung"
Autorinnen: Agathe Pawlas, Veronika Bußmann, Lena Reiter, Anna Müller -> Download