DDR

Aus Geschichte der Behinderung
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Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten

Autor: Sebastian Barsch

Rehabilitationspädagogik

  • Die Rehabilitationspädagogik der DDR wurde maßgeblich unter Leitung von Klaus-Peter Becker an der HU-Berlin entwickelt. Gegenstand der Rehabilitationspädagogik ist die Gestaltung des schädigungsspezifischen erzieherischen Verhältnisses. Sie untergliedert sich analog zu den Sonderschulformen (inkl. Förderungstagesstätten) in eine Rehabilitationspädagogik der:
  1. Hörgeschädigten
  2. Körperbehinderten
  3. Sehgeschädigten
  4. Sprachgestörten
  5. Verhaltensgestörten
  6. schulbildungsunfähigen und schulbildungsunfähigen förderungsfähigen
  • Die Rehabilitationspädagogik versteht sich interdisziplinär. Becker definierte sie so: "Sozialistische Rehabilitation ist eine interdisziplinäre kollektive Tätigkeit, besonders in medizinischer, pädagogischer und sozialer Hinsicht, mit dem Ziel, geschädigte Menschen zur aktiven Teilnahme am produktiven, politischen, kulturellen und familiären Leben in der sozialistischen Gesellschaft zu befähigen, einmal entwickelte Fähigkeiten dieser Art zu erhalten oder verlorengegangene wiederzugewinnen."
  • Eine primäres Ziel der Rehabilitation war die optimale Eingliederung in den Arbeitsprozess (der Arbeit kam in der sozialistischen Theoriebildung ein bedeutender Stellenwert zu)

Sonderschulwesen

  • "Der Befehl Nr. 40 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) vom 25. August 1945 leitet in der SBZ [Sowjetische Besatzungzone] die Vorbereitung zur Wiederaufnahme des Unterrichts ein." (Werner 1999, 26) » dies gilt für alle Schulformen, u.a. die Sonderschule
  • Trotz ähnlicher Strukturen versuchten die Bildungspolitiker zunächst, die Schule anders zu organisieren als vor 1933 » im Frühjar 1946 begann eine Werbekampgane für eine demokratische Schulreform. Die frühere Volksschule sollte mit Hilfe dieser von der neuen Einheitsschule abgegrenzt werden (vgl. Werner 1999, 29).
  • 1946 wurde das "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" verabschiedet. Mit diesem Gesetz wurden u.a. Privatschulen verboten.
  • Im Jahr 1947 beginnt die Humboldt-Universität zu Berlin mit der Ausbildung von Sonderschullehrern (zweisemsestrigen Zusatzausbildung für Lehrer)
  • In den Jahren 1948-1950 erfährt die Pädagogik in der SBZ eine "Sowjetisierung" und "Ideologisierung" im Sinne des sich festigenden Kommunismus (vgl. Werner 1999, 34)
  • Am 7. Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet
  • Mit dem Schulpflichtgesetz von 1950 wurde die Verantwortung des Staates für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der DDR festgesetzt
  • Das "Ministerium für Volksbildung" erließ im Oktober 1951 die Durchführungsbestimmungen zu § 6 des "Schulpflichtgesetzes" in Form der "Verordnung über die Beschulung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit wesentlichen physischen oder psychischen Mängeln". Diese Verordnung hat das in der Verfassung festgelegte Recht auf gleiche Bildung für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen näher festgelegt und die Ausführungsbestimmungen von 1947 weiterentwickelt (Becker 1984, 65)
  • 1956 erschien das erste Mal eine für das Sonderschulwesen eigene Fachzeitschrift mit dem Namen "Die Sonderschule"
  • 1959 ersetzte das Gesetz zur sozialistischen Entwicklung des Schulwesens der DDR (Dezember) die Verordnung von 1946 und das Schulpflichtgesetz von 1950. Es schrieb die Einführung der zehnklassigen polytechnischen Oberschule (POS) vor, was ebenfalls für Sonderschulen galt. Die allgemeine Schulpflicht wurde auf 10 Jahre ausgedehnt
  • 1963 gründete sich die "Staatliche Kommission zur Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems". Diese verbreitete im Februar 1965 das "Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem", welches das Schulwesens der DDR bis 1990 bestimmen sollte. Darin wurde als primäres Bildungsziel die Entwicklung einer sozialistischen Persönlichkeit gesehen.
  • Mit dem 8. Parteitag der SED 1971 wurde ein weiterer Ausbau des Bildungssystems festgelegt
  • "Auf dem 9. Parteitag 1976 wurde die Direktive für den nächsten 5-Jahresplan festgelegt. Danach sollten bis 1980 Investitionen in den Bereich des Sonderschulwesens fließen, welche die Neuschaffung von Unterrichtsräumen und Internatsplätzen möglich machen würden. So entstanden nach 1976 12 neue Schulen für Körperbehinderte. Zudem wurde nach 1976 weiterentwickelte Lehrpläne und Bücher neu eingeführt" (Ränke, 2004)

In der DDR gliederte sich das Sonderschulsystem in 8 Sonderschularten, welche dem Ministerium für Volksbildung unterstellt waren.

  1. Blindenschule
  2. Sehschwachenschule
  3. Gehörlosenschule
  4. Schwerhörigenschule
  5. Sprachheilschule
  6. Sonderschule für Körperbehinderte
  7. Verhaltensgestörtenschule
  8. Hilfsschule

Fördereinrichtungen für "schulbildungsunfähige"

  • Kinder wurden durch eine Kommission schon früh eine medizinisch orientierten Diagnostik unterzogen. Dies geschah wie in der Bundesrepublik durch einen Amts- bzw. Kreisarzt, jedoch unter Einbeziehung von Pädagogen und Psychologen. Die Diagnose entschied zunächst über den Förderort (konnte jedoch später revidiert werden). Dabei gab es drei Formen und Konsequenzen der Oligophrenie = geistige Behinderung = Intelligenzminderung = geistige Retardierung:
  1. Grades = Debilität (Hilfsschulprognose)
  2. Grades = Imbezillität (in der Prognose nicht schulbildungs-, jedoch lebenspraktisch förderungsfähig)
  3. Grades = Idiotie schwerste geistige Behinderung (Förderungsfähigkeit nicht vorhanden; "Pflegefälle") (vgl. Jun, 1984)
  • Für die sog. "schulbildungsunfähigen" fand in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg kaum eine gezielte Förderung statt. Viele lebten unter ähnlichen Bedingungen wie zur Zeit der NS-Diktatur in psychiatrischen Einrichtungen und Heimen unter sehr schlechte Bedingungen
  • "Als bildungsunfähig galten 'schwachsinnige Kinder', die nicht imstande waren, im Rahmen der Hilfsschule anwendbare elementare Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen zu erwerben." (Eßbach 1985, 55)  » für diese Personengruppe war nicht das Ministerium für Volksbildung, sondern das Ministerium für Gesundheitswesen zuständig.
  • Seit den 1950er Jahren sind vermehrt Förderungstagesstätten für "schulbildungsunfähige, förderungsfähige Kinder" entstanden. Es fand jedoch auch in der Hilfsschule eine Differenzierung statt, die sich in der "Installierung eines C-Zuges und eines Vorschulteiles" (Eßbach 1985, 60) bemerkbar machte, wo diese Kinder unterrichtet wurden.
  • Am "14. April 1959 sandte das Hauptreferat Allgemeinbildung der Abteilung Volksbildung beim Rat des Bezirkes Magdeburg an alle Hilfsschulen mit Vorschulteil" die "Hinweise zur Beschulung Schwerschwachsinniger" (Eßbach 1985, 60f.). Dieser Hinweis sagte aus, dass dem Alter nach schulplflichtige Kinder, die jedoch auf Grund ihrer Intelligenzminderung nicht für die Hilfsschule geeignet waren, im Vorschulteil der Hilfsschulen gefördert werden sollten. In diesem Vorschulteil durften jedoch keine Lehrer tätig sein, sondern nur Erzieher.
  • Eine angemessene Förderung fand kaum statt. Problematisch war auch die Unterbringung von schwerschwachsinnigen in den C-Klassen der Hilfsschulen. Dort mussten sie auch am Unterricht der Kulturtechniken teilnehmen, was zur Folge hatte, "daß manche von ihnen nach etwa 300 Stunden Schreib-Lese-Unterricht Buchstaben benennen und zum Teil auch einfache Wörter lesen und nach Diktat schreiben konnten, ohne jedoch dem Gelesenen einen Sinn entnehmen" (Eßbach 1985, 62) zu können.
  • In den 1960er Jahren entwickelte darauf hin die Forschungsgruppe "Imbezille Kinder und Jugendliche" der Arbeitsgemeinschaft "Geschädigte Kinder und Jugendliche" der Gesellschaft für Rehabilitation um Sigmar Eßbach alternative Vorschläge zur nichtschulischen Förderung geistig behinderter Kinder
  • Ab den 1960er Jahren erfolgte ein massiver Ausbau der Förderungstagesstätten: der Beschluss des Ministerrates vom 20. August 1969 schaffte die "Rehabilitationspädagogischen Förderungseinrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesen".
  • Sigmar Eßbach forderte mit seiner Dissertation 1966 Recht auf Bildung und Erziehung der Personengruppe der Intelligenzgeschädigten
  • 1974 - "Entwurf eines Rahmenplanes für schulisch nicht mehr bildbare Kinder und Jugendliche" ergeht an die ca. 140 Förderungseinrichtungen zur Erprobung. Daraus erging später das "Grundlagenmaterial zur Gestaltung der rehabilitativen Bildung und Erziehung"
  • Dieses "Grundlagenmaterial zur Gestaltung der rehabilitativen Bildung und Erziehung" wurde von einer Gruppe um Eßbach erarbeitet und wurde 1987 vom Ministerium für das Gesundheitswesen an Förderungstagesstätten verteilt. Diese Materialsammlung ist vergleichbar mit denen in anderen Ländern. Die Förderbereiche waren:
    • Bekanntmachung mit Dingen und Erscheinungen der Umwelt
    • Muttersprachliche Erziehung
    • Spiel
    • Musikalisch-rhythmische Bildung und Erziehung
    • Bewegungserziehung
    • Arbeitserziehung
    • Bekanntmachen mit quantitativen Sachverhalten
    • Selbstbedienung (Selbstversorgung)
  • Seit den 1970er Jahren fanden Ferienfreizeiten für geistig behinderte Kinder und Jugendliche statt, die vom Ministerium für Gesundheitswesen organisiert wurden
  • es bestand keine Förderungspflicht (vergleichbar mit der Schulpflicht). Verschiedene Gruppen haben jedoch in Kooperation mit Vertretern des Ministeriums für Gesundheitswesen Pläne dazu ausgearbeitet, die aber nicht vor dem Ende der DDR verwirklicht werden konnten.
  • Für die arbeitsfähigen bestand die Möglichkeit, einer Tätigkeit an einem geschützten, d.h. intensiv betreuten Arbeitsplatz, nachzukommen.
Arten der rehabilitationspädagogischen Einrichtungen
  • Tagesstätten
  • Wochenheime: vorwiegend in ländlichen Kreisen. Die Kinder sind an den Wochenenden bei ihren Familien.
  • Dauerheime
  • Psychiatrien

Die Situation derer, die als Pflegefälle galten ("nicht förderungsfähig") unterschied sich teils von denen der förderungsfähigen. Die Betreuung von Pflegefällen war weniger weit entwickelt und verlagerte sich oft in den privaten Bereich. Auch waren viele geistig schwerstbehinderte Menschen in Dauerheimen und Psychiatrien untergebracht, wo teilweise nur eine Minimalbetreuung stattfand. Für diese Personengruppe war weit mehr die persönliche Engagement der Betreuuer aussschlaggebend, als staatliche Bildungsrichtlinien. Es gab jedoch zahlreiche kirchliche Einrichtungen, die die Betreuung von Schwerstbehinderten übernahm. Die Arbeitsgruppe um Sigmar Eßbach befasste sich jedoch, nachdem die Förderungsmöglichkeiten von den "förderungsfähigen" Kindern und Jugendlichen weitgehend stabilisiert wurden, zunehmend auch mit dieser Personengruppe (welche mit dann mit der Bezeichnung "elementar förderungsfähig" bezeichnet wurden).

Dispensaire-Betreuung

  • Die Dispensaire-Betreuung war eine ambulante Betreuung von psychisch entwicklungsgestörten Kindern und Jugendlichen in jedem Kreis der DDR
  • Der leitende Kinderneuropsychiater war mit seinem Team verantwortlich für Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Nachsorge psychisch entwicklungsgestörter Kinder und Jugendlicher
  • Da es keine förderungspflicht bei schwerer Behinderung gab, kam dieser aufsuchenden Form der Betreuung ein besonderer Stellenwert zu
  • "Das Miteinander von ambulanter und stationärer Versorgung, das System der Polikliniken als günstiger Rahmen für das Zusammenwirken von Ärzten und verschiedener diagnostischer und therapeutischer Einrichtungen, die Dispensaire-Betreuung, die meist komplikationslose Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzten und auch die betriebliche Gesundheitsversorgung gehörten zu den Bestandteilen des DDR-Gesundheitswesens, deren sinnvolle Nutzung allen Bürgern der Bundesrepublik zugute kommen könnten" (hier entnommen)


Literatur

  • Barsch, Sebastian: Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung - Bildung - Betreuung. Band 12 der Reihe "Lehren und Lernen mit behinderten Menschen", Oberhausen 2007
  • Barsch, Sebastian: Bildung, Arbeit und geistige Behinderung in der DDR. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In: Deutschland Archiv 3/2008, 480-487
  • Becker, Klaus-Peter und Autorenkollektiv: Rehabilitationspädagogik. 2. bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 1984
  • Büchner, Robert/ Büchner, Regine/ Lelgemann, Reinhard: Die Schule für Körperbehinderte in der DDR. Geschichte aus Schulleiterperspektive. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 61 (2010), S. 342-350.
  • Eßbach, Sigmar u.a.: Ein Kind kann keine Schule besuchen – hat es überhaupt eine Entwicklungschance? Berlin 1981
  • Eßbach, Sigmar u.a.: Rehabilitationspädagogik für schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte. Berlin 1985
  • Eßbach, Sigmar. u.a.: Grundlagenmaterial zur Gestaltung der rehabilitativen Bildung und Erziehung. Berlin 1987
  • Glawe, H.: Das Sonderschulwesen der Deutschen Demokratischen Republik. Eine Übersicht. (5. Beiheft der Zeitschrift "Die Sonderschule") Berlin 1967
  • Gries, S.: "Sie haben doch gesunde Kinder, da stört das behinderte nur." Vom wissenschaftlichen und staatlichen Umgang mit behinderten Kindern in der DDR. In: Mertens, L.; Voigt, D. (Hrsg.): Humanistischer Sozialismus? Der Umgang der SED mit der Bevölkerung, dargestellt an ausgewählten Gruppen. Münster 1995, S.235-282
  • Hettwer, H.: Das Bildungswesen in der DDR. Strukturelle und inhaltliche Entwicklung seit 1945. Köln 1976
  • Hübner, Ricarda: Die Rehabilitationspädagogik in der DDR. Zur Entwicklung einer Profession. Frankfurt/Main, Berlin, Bern u.a. 2000
  • Jun, Gerda: Kinder, die anders sind. Berlin 1984
  • Marquardt, Erwin: Das Gesetz über die demokratische Schulreform. Volk und Wissen Verlag, Berlin/Leipzig 1946
  • Pehnke, A.: Die schulische Betreuung behinderter Kinder in der ehemaligen DDR. In: Liedtke, M. (Hrsg.): Behinderung als pädagogische und politische Herausforderung. Historische und systematische Aspekte. Bad Heilbrunn 1996, S.223-235
  • Suhrweier, Horst: Beurteilung geschädigter Kinder. Berlin 1974
  • Verordnung über die Beschulung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit wesentlichen physischen und psychischen Mängeln vom 5. Oktober 1951 (Gesetzblatt Nr. 122/1951). In: Müller, H. (Hrsg.) Hygiene der Normal- und Sonderschulen im Hinblick auf Schüler mit körperlichen und geistigen Mängeln. Berlin 1956, S.123-128
  • Werner, Birgit: Sonderpädagogik im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Tradition. Zur Geschichte der Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Hilfsschulpädagogik in der SBZ und DDR zwischen 1945 und 1952. Hamburg 1999


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