Altertum
Inhaltsverzeichnis
Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten
Allgemeiner Kurzüberblick
- In den meisten Kulturen war es üblich und erlaubt, körperbehinderte Kinder nach der Geburt zu töten
- Nur in Theben wurde die Aussetzung und Tötung unter Androhung der Todesstrafe verboten
- Griechische Philosophen propagierten die Eleminierung Behinderter und forderten die "Züchtung" des Idealmenschen (Plato, Aristoteles)
- In Rom wurde die väterliche Verfügungsgewalt beschränkt mit der Maßgabe, dass behinderte Kinder erst dann ausgesetzt wurden, wenn fünf Nachbarn ihre Zustimmung erteilt hatten
- Doch in Rom war es üblich Missgebildete zur Belustigung einzusetzen und sie auf Narrenmärkten zusammenzutragen
- Im Jahr 330 wird in Konstantinopel das "Haus für Verstümmelte" gegründet
Mesopotamien und Ägypten
- Behinderung als Gottesstrafe
- Unterrichtswesen schloss Minderbegabte aus
Die ersten Hinweise bezüglich des Schicksals Behinderter finden sich in den Überlieferungen aus den mesopotamischen und ägyptischen Reichen. Die Ausgangspunkte der mesopotamischen Kultur waren das nordöstliche Assyrien, sowie das südliche Babylon. Die babylonische Weltanschauung war geprägt durch den Glauben, dass der Mensch Diener von und für die Götter erschaffen sei, denen alles Tun zu gelten habe, damit sie selbst Ruhe hätten. Verstöße gegen die festgelegte Ordnung galten als gegen den Willen der Götter gerichtete Sünde und zogen härteste Bestrafungen nach sich. Krankheiten und Behinderungen wurden als Strafe der Götter gedeutet, deren Heilung nur durch Aussöhnung möglich war. Diejenigen, bei denen es den Priestern nicht gelang die Götter zu besänftigen und die Anomalien zu beseitigen, galten als schuldhaft Gezeichnete, als Aussätzige. Die "Hauptfunktion" Behinderter, deren Schädigung schon bei der Geburt festgestellt wurde, bestand in der Verwendung als Omen des Götterwillens.
"Wenn eine Frau eine Mißgeburt gebiert, wird das Land Not ergreifen" "Wenn eine Königin eine Mißgeburt gebiert, wird der Feind die Habe des Königs rauben" "Wenn eine Frau einen Krüppel gebiert, wird das Haus des Menschen in Leid geraten" "Wenn eine Sklavin ein Kind ohne Mund gebiert, wird die kranke Herrin des Hauses sterben"
Volkert Haas (1992) hat verschiedene sumerische Quellen analysiert, die Rückschlüsse auf soziale Randgruppen in der Ur-III-Zeit (ca. 2100-1960 v. Chr.) ermöglichen. So findet sich auf einer Steintafel die Beschreibung des Straßenzustandes in einer babylonische Stadt:
„Neben allerlei Getier – Hunde, Schweine, Rinder, Pferde, Esel, Schafe, Ziegen und Geier – begegnen Ekstatiker, eine als 'herumstreunender Gott' […] bezeichnete Gestalt, Krüppel, Taube, Blinde und sogar Tote” (S. 31). Darüber hinaus erlaubt die Omensammlung šumma ālu (Wenn in einer Stadt...) vage Rückschlüsse auf das Vorhandensein von Menschen mit Behinderung. Auszug aus dieser Sammlung:
- "Wenn in einer Stadt weibliche Lahme zahlreich sind, wird es jener Stadt, ihrem Innern, gut gehen.
- Wenn in einer Stadt Idioten zahlreich sind, wird es dem Innern der Stadt gut gehen.
- ...mit Warzen Behaftete zahlreich sind: Zerstörung der Stadt.
- ...Taube zahlreich sind, wird es dem Innern der Stadt gut gehen.
- ...Blinde zahlreich sind: Leid über die Stadt
- ...Verkümmerte/Verkrüppelte zahlreich sind: Leid über die Stadt.
- ...Krüppel zahlreich sind: Zerstörung
- ...Anormale zahlreich sind: Leid über [die Stadt]
- ...Bauarbeiter zahlreich sind, […] der Stadt gut gehen
- ...Schmiede zahlreich sind, wird Verderben im Lande entstehen
- ...Frauen einen Bart tragen, wird Not das Land ergreifen" (Haas 38ff.)
Renger kommt 1992 zu dem Schluss, dass trotz mehrfacher Erwähnung von Kranken, Krüppeln und Debilen in keilschriftlichen Quellen keine Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen gezogen werden können (S. 114f.). Auch sei es schwer möglich, kompatible Daten aus den Quellen zu erlangen, da diese "sich über einen Zeitraum von mehr als 1000 Jahren verteilen" und einzelne Wörter somit im Laufe der Zeit einen Wandel durchlaufen haben könnten (S. 115).
Die vereinzelten Hinweise über die Stellung beziehungsweise die Behandlung Behinderter in den altägyptischen Reichen lassen kaum vermuten, dass diese besondere Fürsorge erfuhren. Es gibt vereinzelt Hinweise, dass Behinderte am Berufsleben teilnehmen konnten:
- "der Hinkende wird zum Torhüter gemacht"
- "Der Kurzsichtige zum Viehfütterer"
- "der Kleinwüchsige wurde für spezielle Handwerksarbeiten herangezogen" (doch nur solange, bis Sklaven diese Tätigkeiten billiger ausführen konnten)
Auch die Tatsache, dass Zwerge häufig als Narren zur Belustigung der Pharaonen und deren Hofstaat dienten, scheint eher auf eine entwürdigende Position hinzuweisen.
Inwieweit die den Ägyptern zuweilen zugeschriebenen Eigenschaften wie Wohltätigkeit oder Schutz der Schwachen auch Behinderte einschloss, für die keine Verwendung gefunden werden konnte, ist in der oligarchischen Gesellschaft, in der die Masse der Bevölkerung zum Vorteil weniger geknechtet wurde, kaum anzunehmen.
"Lache nicht über einen Blinden und verhöhne nicht den Zwerg und schädige nicht den Zustand eines Lahmen. Verhöhne nicht einen Mann, der in der Hand Gottes ist und sei nicht grimmig gegen ihn, wenn er fällt" (Lehre des Amenemope, um 1200 v. Chr.)
Das Unterrichtswesen, das die Aufgabe hatte, Nachwuchskräfte für die differenzierte Wirtschaft und Verwaltung heranzubilden und der Oberschicht vorbehalten war, schloss Minderbegabte, die aufgrund der Annahme, dass das Herz Zentrum des Körpers, Sitz des Denkens und der Weisheit sei, als "herzlos" gesehen werden, von vornherein aus.
Sparta und Athen
- Sparta: Bei der Geburt eines Kindes begann eine vorgeschriebene Selektionsprozedur: Der Vater mußte das Neugeborene der "Gerusia" vorführen, der Versammlung der Ältesten, die die Einhaltung der Lykurgischen Gesetze zu überwachen hatte. War das Kind ihrem Urteil nach gesund und erfüllte die Erwartungen hinsichtlich eines kräftigen Körperbaus, wurde es in die Gemeinschaft aufgenommen; war es dagegen krank, schwächlich oder zeigte irgendwelche Missbildungen, wurde es dem Vater abgenommen und auf den Berg Taygetos gebracht, wo es in die tiefen Schluchten geworfen wurde.
- Athen: Wer nicht in der Lage war, zum Erhalt bzw. Fortentwicklung des Staates beizutragen, hatte keinen Anspruch auf Fürsorge. Die Tötung missgebildeter Neugeborener wurde zum Interesse des Gemeinwohls erhoben.
Die totale Unterwerfung des Schicksals der Schwachen und Behinderten unter die "Staatsräson" wurde im antiken Sparta (um 900 v. Chr.) verwirklicht. Bei der Geburt eines Kindes begann eine vorgeschriebene Selektionsprozedur. Der Vater musste das Neugeborene der "Gerusia" vorführen, der Versammlung der Ältesten, die die Einhaltung der Lykurgischen Gesetze zu überwachen hatte. War das Kind ihrem Urteil nach gesund und erfüllte die Erwartungen hinsichtlich eines kräftigen Körperbaus, wurde es in die Gemeinschaft aufgenommen; war es dagegen krank, schwächlich oder zeigte irgendwelche Missbildungen, wurde es dem Vater abgenommen und auf den Berg Taygetos gebracht, wo es in die tiefen Schluchten geworfen wurde.
In den athenischen Staatswesen standen neben militärischer Machterhaltung wirtschaftliche Dominanz und Erlangen von Reichtum im Vordergrund. Wer nicht in der Lage war, zum Erhalt bzw. Fortentwicklung des Staates beizutragen, hatte keinen Anspruch auf Fürsorge und wurde ausgemerzt. Auch die Gesetzgebung Solons (594 v. Chr.) in der erstmals die Gleichheit aller Menschen, gleich welcher Herkunft, (allerdings nur) formuliert wurde, sprach Lebenssinn und Lebensrecht den Behinderten und Missgestalteten, die nicht einmal den niedrigsten Kriegsdienst ausüben konnten, weder politisch noch am wirtschaftlichen Leben teilnehmen konnten und daher auch nicht als sozusagende "Sozialversicherung" zur Versorgung des nicht mehr erwerbsfähigen Vaters und seiner Familie beitragen konnten, ab. Die Tötung missgebildeter Neugeborener wurde zum Interesse des Gemeinwohls erhoben.
Auch das Denken der griechischen Philosophen sah den Wert eines Individuums hauptsächlich in dessen sozialer Brauchbarkeit. So verfolgte gerade Platons (427-347 v. Chr.) Staatsidee das Ziel, die Funktionsfähigkeit des Staates zu optimieren. Hierzu dienten die strengsten Auslesekriterien im Bildungssystem, ebenfalls staatlich überwachte eugenische Maßnahmen, die das Verhindern und Beseitigen "untüchtiger" Kinder regeln sollte.
In welchem Ausmaß auch die Medizin zum Staatswohl beizutragen hatte, verdeutlichen Hinweise über die "Barrieren" medizinischer Behandlungen. Bei Hippokrates (460 - 377 v. Chr.) wurde eine Behandlung nur dann für nötig befunden, wenn diese überhaupt Aussicht auf Erfolg sowie Amortisierung der Behandlungskosten versprach:
"Der Arzt, der die Methode der Heilung kennt, muß nur solche Kranke behandeln, wenn sie jung und arbeitsfreudig sind...unheilbaren Fällen muß man überhaupt ausweichen, zumal wenn man eine annehmbare Ausflucht hat." (aus dem Corpus Hippocraticum)
Rom
- Vater übt unumschränkte Verfügungsgewalt über Frau und Kinder aus. Bei der Geburt eines Kindes lag es allein in seiner Entscheidung, ob dieses Kind getötet oder aufgezogen werden sollte. Eine Tötung betraf die meisten missgebildeten Kinder
- Aus dem Zwölftafelgesetz, dem ersten niedergeschriebenen römischen Rechtskodex (451 v. Chr.), wird die Tötung missgebildeter Kinder ausdrücklich empfohlen.
- Teilweise auch Versklavung behinderter Kinder bzw. "Karriere" als Narren.
Nicht anders als im antiken Griechenland war die Stellung der Behinderten im alten Rom. Die strenge Ordnung aller gesellschaftlichen Bereiche dokumentierte sich schon in der Familie, wo der Vater unumschränkte Verfügungsgewalt über Frau und Kinder ausübte. Bei der Geburt eines Kindes lag es allein in seiner Entscheidung, ob dieses Kind getötet oder aufgezogen werden sollte. Ersteres betraf vor allem missgebildete Kinder, aber auch (gesunde) Mädchen. Wurde eine Behinderung erst später festgestellt, war es ebenfalls in das Ermessen des Vaters gestellt, dieses Kind auch dann noch zu töten oder aber als Sklave zu verkaufen. Auch im Zwölftafelgesetz, dem ersten niedergeschriebenen römischen Rechtskodex (451 v. Chr.) und im Prinzip eine Kopie der Gesetze Solons, wurde die Tötung missgebildeter Kinder ausdrücklich empfohlen.
"Vielfach wurden sie auf die Straße geworfen, in dem velebrensischen See, wo die Kloaken der Stadt ausmündeten, ertränkt, in Wüsten Wäldern, an den Tiber, auf den Gemüsemarkt gelegt" (Kirmsee 1911,5).
Das Los derjenigen, die überleben "durften", war nicht besser. Entweder wurden sie zu Sklaven für die niedrigsten Arbeiten, zu Bettlern oder zu Narren. Um als Bettler möglichst viel Mitleid zu erregen, war es üblich, dass ihre Besitzer ihnen zusätzliche Verunstaltungen zufügten.
"Diesem Sklavenherren zum Nutzen schwanken die Blinden auf den Stab gestützt einher, ihm zum Vorteil zeigen die anderen die verstümmelten Arme, die verrenkten Knöchel...Jener Beinzermalmer haut dem einen den Arm ab, schwächt den anderen, verdreht diesem...die Schulter, damit er höckrig werde" (Seneca; zitiert nach Kirmsee 1911, 5).
Als Narren hatten sie den größten "Erfolg", wenn sie nicht nur verwachsen, mit möglichst verunstalteten Gesichtszügen, sondern darüber hinaus auch blödsinnig waren. Erst so erfüllten sie ihre Aufgabe zur Unterhaltung bzw. Belustigung der saturierten Oberschicht. Für "Nachschub" sorgten die eigens eingerichteten Narrenmärkte, deren schwunghafter Handel ein einträgliches Geschäft versprach.
Allerdings finden sich in der Zeit auch - wohl ohne Konsequenzen gebliebene - Äußerungen, die auf die menschenunwürdige Behandlung der Behinderten hinwiesen, wie z.B. bei Seneca. Dieser, geprägt von den Lehren der Stoiker, die Selbstbescheidung und Pflichterfüllung als höchste Tugenden erachteten und Gleichgültigkeit gegenüber allen irdischen Dingen an den Tag legten, verdeutlichte in seiner Haltung allerdings auch Zwiespältigkeit gegenüber denen, die den Erwartungen der Gesellschaft nicht genügen konnten. So wird zum einen berichtet, dass er Geistesschwache in sein Haus aufnahm, um sie vor dem Gespött der Bürger zu schützen, zum anderen empfahl er den Freitod, wenn das Leben durch Krankheit oder Alter für das Wohl der Gemeinschaft nutzlos geworden war.
Die Stellung Behinderter im Alten und Neuen Testament
- Altes Testament: Behaupteter Zusammenhang zwischen Schuld bzw. Sünde und Krankheit bzw. Behinderung
- Neues Testament: dier o.g. Zusammenhang wird teilweise bestritten, so z.B. in Johannes 9. 1 - 9. 3: "Im Vorübergehen sah er einen Mann, der von Geburt an blind war. Seine Jünger fragten ihn: 'Rabbi wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, daß er blind geworden ward?' Jesus antwortete: "Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, es sollten vielmehr die Werke Gottes sich an ihm offenbaren"
Literatur
- Haas, Volkert (Hg.) (1992). Außenseiter und Randgruppen. Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Alten Orients. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen, Heft 32. Konstanz: Universitätsverlag.
- Kozma, Chahira (2005). Dwarfs in Ancient Egypt. In: American Journal of Medical Genetics (2006), 303-311.
- Müller, K. E. (1996). Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. München: C.H. Beck.
- Schlegel, K. F. (1994). Der Körperbehinderte in Mythologie und Kunst. Stuttgart: Thieme Georg Verlag.
- Schröder, S. (1983). Historische Skizzen zur Betreuung schwerst- und mehrfachgeschädigter geistigbehinderter Menschen. In: Hartmann, N, (Hrsg.): Beiträge zur Pädagogik der Schwerstbehinderten. Heidelberg, S. 17-61