20. Jahrhundert bis 1933
Inhaltsverzeichnis
Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten
Allgemeiner Überblick
- Bis zu Beginn des 2. Weltkrieges werden die im 19. Jahrhundert aufgebauten heilpädagogischen Institutionen weiter ausgebaut
- Die Heilpädagogik orientierte sich weitgehend an medizinischen Paradigmen
- Psychiatrische Methoden gewannen zunehmend Einfluss auch auf pädagogischer Ebene
Schule und Anstalt
- Taubstumme/ Gehörlose/ Schwerhörige
- erste Bundesversammlung der Gehörlosenlehrer 1900
- erste Schwerhörigenklasse an einer öffentlichen Schule 1902
- erste öffentliche Schwerhörigenschule 1907
- Am 01.04.1902 wird Reinfelder Leiter der ersten, öffentlichen Schwerhörigenklasse Deutschlands. Die Klasse trägt die unglückliche Bezeichnung "Nebenklasse für schwerhörige und schwachsinnige Kinder", was dazu führt, dass nur wenige Eltern ihre Kinder in dieser Klasse unterrichten lassen.
- In dem Zeitraum von 1894 bis zu Beginn des 1. Weltkrieges (1914) wurden in allen größeren Städten Deutschlands Schwerhörigenklassen oder —schulen gegründet
- 1926 wird der erste amtliche Lehrplan für Schwerhörigenschulen veröffentlicht
- Hilfsschule
- Ab 1908 erschien das Verbandsorgan "Die Hilfsschule" (Schriftleiter August Henze) monatlich.
- Um die Jahrhundertwende existierten bereits 70 Hilfsschulen, 1914 wurden dort 43000 Kinder, 1928 über 70000 Kinder unterrichtet. Dennoch war die Institution der Hilfsschule durchaus nicht unumstritten, z.B. aus Kostengründen. Aus dem daraus sich ergebenden Legitimationsdruck erwuchs die Hypothese, das an den Hilfsschulen schwachsinnige Kinder unterrichtet wurden. Dies drückt Fuchs etwa in dem Gedanken aus, dass eine bei diesen Kindern bestehende pathologische Schwäche des Gehirn eine allgemeine Schwäche und einen Entwicklungsrückstand bewirkt, der immer bestehen bleibt. Die Funktionen dieser Schwachsinnshypothese liegen nach Berner darin, dass sie eine Spezialisierung von Lehrern für die besondere Art dieser Kinder legitimieren und damit öffentliche Mittel für Hilfsschulen begründen soll. Ursachen für den Schwachsinn werden in der Verbandspresse im Kind selbst bzw. in seinen Erbanlagen gesehen. Damit sind hier Gedanken und Thesen des Sozialdarwinismus im Denken der Hilfsschullehrerschaft angedeutet, die fatale Konsequenzen haben sollten. Praktisch galt für die Zuweisung zur Hilfsschule das Kriterium des zweijährigen Versagens in einer Klasse der Volksschule. Nach dem 1. Weltkrieg veränderte sich die Schülerschaft der Hilfsschule. Die Hilfsschule wurde zur Schule für Schulleistungsschwache. Die Bedingung, dass der Schularzt Schwachsinn zu diagnostizieren hatte, entfiel.
- Unter größeren Legitimationsdruck kommen die Hilfsschulen zu Beginn der 1930er Jahre mit der sich verstärkenden wirtschaftlichen Krise. Im Zuge der Sparmaßnahmen wird begonnen, Hilfsschulen zu schließen oder zusammenzulegen. Dennoch kommt es ab den frühen 1920er Jahren bis Anfang der 1930er Jahre zur Blütezeit der Heilpädagogik. Auch schwer schwachsinnige Kinder fanden in sog. Sammelklassen einen Ort in Schulen. Diese waren den Hilfsschulen angegliedert.
- Erziehungshilfe/ Jugendstrafvollzug
- Erziehungsheime und Heimschulen
- zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte die ökonomische Situation zur Vernachlässigung vieler proletarischer Kinder
- mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), das am 01.04.1924 in Kraft trat, wurde jedem deutschen Kind ein Anrecht auf Erziehung "zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit" zugesichert
- in den 1920er Jahren setzte eine massive Kritik an den Heimen ein, die bis zu Revolten und Demonstrationen führte und dadurch eine Reform der Heimerziehung anstieß
- Jugendstrafvollzug und Gefängnisschulen
- 01.08.1912: Gründung des 1. Deutschen Jugendgefangnisses in Wittlich an der Mosel
- der Jugendstrafvollzug enthielt einen volksschulgemäßen Unterricht
- nach Gründung der Weimarer Republik: das Jugendgerichtsgesetz (JGG) wurde verabschiedet, mit welchem gegenüber Jugendlichen der Straf- und Vergeltungsgedanke zugunsten des Erziehungsgedankens eingeschränkt wurde
- Beobachtungsklassen und Erziehungsklassen
- um 1928 entstanden in Zürich und
Berlin kurz hintereinander eigene Klassen für
schwererziehbare Kinder innerhalb der
Volksschule. Aufgaben der neuen Einrichtung
waren:
- die Analyse der ihr zugewiesenen Kinder nach Anlage und Umwelt
- eine heilpädagogische Beeinflussung ihrer Schüler
- die Einleitung von Fürsorgemaßnahmen anderer Art bei den maßgebenden Amtsstellen
- um 1928 entstanden in Zürich und
Berlin kurz hintereinander eigene Klassen für
schwererziehbare Kinder innerhalb der
Volksschule. Aufgaben der neuen Einrichtung
waren:
- Einrichtungen der Psychopathenfürsorge
- nach dem 1. Weltkrieg führten die zerstörten staatlichen Verhältnisse zu einer großen Zunahme von Psychopathien
- im Oktober 1918 gründete Ruth von der Leyen den "Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen"
- die Heime unterstanden nun vermehrt pädagogischer Leitung
- Erziehungsheime und Heimschulen
- Erziehungsberatung
- 1903 Errichtung einer heilpädagogischen Beratungsstelle durch den Kriminalpsychologen W. Cimbal.
- 1906 Gründung der "Medico- pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztliche erziehliche Behandlung" von Dr. Med. Fürstenheim in Berlin.
- 1909 Der Psychiater W. Healy errichtet in Chicago die 1. "Child Guidance Clinic" (27 Jahre später gibt es in den USA bereits 678 solcher Kliniken)
- 1916 Einrichtung einer "Jugendsichtungsstelle" in Frankfurt/ Main von Fürstenheim
- 1917 August Homburger eröffnet die erste heilpädagogische Beratungsstelle in der Ambulanz der Universitätsklinik in Heidelberg
- 1918 Johannes Prüfer ruft den "Verein zur Förderung der häuslichen Erziehung" ins Leben. In diesem Rahmen richtete er Beratungsstellen im ganzen Dt. Reich ein.
- 1920 Gründung der 1. Erziehungsberatungsstelle (EBS) in Wien (baut auf Adlers Individualpsychologie)
- 1922 Alfred Adler nimmt in seinem Werk "Heilen und Bilden" Stellung zu der Arbeit in Erziehungsberatungsstellen: "In der Familie entstanden, kann die Verwahrlosung durch die Familie nicht geheilt werden."
- 1. Erziehungsberatungsstelle in München gegründet vom Nervenarzt Seif
- Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) erhalten die EBS eine gesetzliche Grundlage
- 1924 Beginn mit der Einrichtung von Jugendämtern
- 1928 Adler hält am Pädagogischen Institut in Wien eine Vorlesung für Lehrer und Erzieher zum "Umgang des Lehrers mit erziehungsschwierigen Schülern"
- 1929 Das Jugendamt der Stadt Köln richtet eine Stelle für Erziehungsberatung ein. Mittlerweile existieren 42 Beratungsstellen im Dt. Reich. Die Bezeichnung "Erziehungsberatungsstelle" hat sich nun auch durchgesetzt
- Sprachheilkunde
- 1901 Gründung von Sprachheilklassen in Barmen, 1910 in Halle und 1912 Hamburg
- 1905 Sprachheilkunde wurde Universitätsfach in Berlin.
- 1907 Gründung des Universitätslaboratoriums für experimentelle Phonetik und des Universitätsambulatoriums für Sprach und Stimmstörungen in Berlin
- 1921 erste voll ausgebaute Sprachheilschule (Hamburg)
- 1924 1. Internationaler Kongress für Logopädie und Phonetik
- Seit 1925 gab es in Halle Sprachheilpädagogik im Rahmen von Hilfsschullehrerprüfungen
- Ab 1926 studieren ausgebildete Lehrer nach 2 Jahren Vorbereitung 4 Semester an der Universität Hamburg
- 1927 gab es bereits mehrere Sprachheilschulen in deutschen Städten.
- Ab 1935 gab es eine gemeinsame Prüfungsordnung für Lehrer an Schulen für Gehör- und Sprachleidende in Hamburg
- Körperbehinderte
- 1913 Bau der 1. staatlichen orthopädischen Klinik in München
- 1920 Krüppelfürsorgegesetz
- 1921 Schulungen für Krankenschwestern, die mit körperbehinderten Kindern arbeiten. [ weitere Informationen ]
Medien und Texte
Vorbedingungen nationalsozialistischer Sozial- und Jugendpolitik
Während der Weltwirtschaftskrise kommt es zum Abbau fürsorgerischer Leistungen. Gründe: Finanzen/ Kostenersparnis und biologistische, sozialdarwinistische Ideologien
Bis 1932 werden "unbequeme Jugendliche" nach und nach aus der Beratung entlassen. Personal wird abgebaut und der Etat gekürzt. Der bewusste Verzicht auf fürsorgerische Leistungen, die Forderungen nach Eheverbot, Sterilisation, Internierung und Euthanasie waren auch vor 1933 ernst geführte Diskussionen in der Fachöffentlichkeit.
LIteratur
- Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Prügelknabe Sonderschule - ungeliebte Tochter der Heilpädagogik? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 2/2005, 42-54
- Kremer, Gabriele: "Heilpädagogische Behandlung" oder "mittelalterlich anmutende Erziehungshilfe"? Das medizinische Paradigma im heilpädagogischen Alltag der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 3/20005, 95-100
- Möckel, Andreas: Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart 1988
- Möckel, Andreas: Geschichte der besonderen Grund- und Hauptschule. 4. Aufl., Heidelberg 2001
- Speck, O.: Geschichte. In: Handbuch der Sonderpädagogik, Bd.4. Pädagogik der Geistigbehinderten. Hrsg.: H. Bach. Berlin: Marhold 1979. S. 57-72