2. Hälfte 19. Jahrhundert
Inhaltsverzeichnis
Überblick: Relevante Prozesse, Strukturen, Daten
Allgemeiner Überblick
- Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche heilpädagogische Institutionen aufgebaut. Während besonders für den Bereich der Taubstummenbildung und Blindenbildung bereits im 18. Jahrhundert Anstalten aufgebaut wurden, verbreiteten diese sich in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts wurden heilpädagogische Einrichtungen differenzierter und teilweise in einen stärkeren gesetzlichen Kontext gebracht.
- Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist durch eine enorme Enfaltung der Heilpädagogik gekennzeichnet.
Schule und Anstalt und Gesetz
- Taubstumme und Schwerhörige
- 1860 Beginn der Abspaltung der Taubstummenschule aus der Volksschule
- 1870 begonnene Trennung wird per Gesetz festgeschrieben
- Aufbau des Sonderschulwesens
- Ausbau einer eigenständigen, wissenschaftlich fundierten Lehrerausbildung
- erste private Schule die ausschließlich Schwerhörige unterrichtet in Jena 1894
- Hilfsschule
- Heinrich Ernst Stötzner, mehrere Jahre als Taubstummenlehrer an der Hubertusburg in Sachsen, einer Anstalt, in der schwachsinnige Kinder unterrichtet wurden, beschrieb 1864 in seiner Schrift "Schulen für schwachbefähigte Kinder" ein erstes Konzept einer Nachhilfeschule als eigenständige Institution. Hierbei entwickelte er Grundlagen für Organisation einer solchen Institution, erzieherische, unterrichtliche und curriculare Grundzüge. Stötzners Schrift drückte zum ersten Mal den Begriff Hilfsschule klar aus.
- 1865 fand die Gründung der Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigenbildung statt.
- Erste Hilfsschulen als eigenständige Institution entstanden 1881 in Braunschweig (unter Kielhorn) und Leipzig (unter Stötzner). Weitere Gründungen folgten 1883 in Dortmund und Halberstadt, 1885 Krefeld und Königsberg, 1886 Köln und Reichenbach.
- 1898 folgte die Gründung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) in Hannover. Dieser Verband setzte sich als Ziele die größere Verbreitung der Hilfsschule und den Ausbau der Hilfsschulpädagogik. Allerdings verfolgte der Verband durchaus standespolitische Ziele (Beispiel: Besoldung der Hilfsschullehrer wie Taubstummenlehrer)
- 1898 wurde auf dem Verbandstag des Verbandes der Hilfsschulen der Beschluss gefasst, alle Kinder abzuweisen, bei denen der Grund des Zurückbleibens nicht auf eine geringe geistige Begabung zurückzuführen ist.
- Menschen mit geistiger Behinderung
- 1854 wird die "Blödenanstalt Neuendettelsau" bei Ansbach durch den Pfarrer Wilhem Löhe gegründet.
- Die "Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana" in Baden bei Wien wird 1854 gegründet durch den Pädagogen und Arzt Jan Daniel Georgens und den Pädagogen Heinrich Marianus Deinhardt.
- 1863 folgt die Gründung der "Alsterdorfer Anstalten" bei Hamburg durch den Pastor Dr. Heinrich Matthias Sengelmann.
- Ab 1872 leitet ein Dr. Friedrich von Bodelschwingh die "Anstalt für Epileptische" in Bethel bei Bielefeld.
- 1884 gründet der Pfarrer Domenikus Ringeisen die "Ursberger Anstalten" bei Krumbach.
- Die Schwerstbehinderten dagegen blieben immer noch überwiegend ausgeschlossen oder wurden lediglich gepflegt und versorgt. Dies belegt die Praxis in der zweiten Hälfte des 19. Jh. gegründeten kirchlichen oder staatlichen Anstalten und den städtischen Hilfsschulen
- 1865 wurde die "Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen" gegündet. Ihre Impulse führten 1867 zur Errichtung der ersten "Klasse für schwachbegabte Kinder" an einer Dresdener Volksschule, der bald weitere folgten. Die erste Einrichtung mit der Bezeichnung "Hilfsschule" stand in Elberfeld. Es folgten Braunschweig und Leipzig.
- Körperbehinderte
- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand durch den dänischen Pastor H. Knudsen die erste Körperbehindertenhilfe in der Inneren Mission. Der "Verein, der sich gelähmter und verkrüppelter Kinder annimmt" setzte sich zum Ziel, körperbehinderte Kinder und Jugendliche ärztlich und orthopädisch zu behandeln, aber auch durch schulische und berufliche Ausbildung die Kinder so zu fördern. "daß sie ein Leben zu führen vermögen, das demjenigen anderer Menschen soviel wie möglich gleicht".
- Durch Pastor Hoppe, der Knudsens Konzept übernahm und bei Potsdam das erste "Vollkrüppelheim" gründete, wurde das Rehabilitationskonzept auch für die Arbeit der Inneren Mission fruchtbar gemacht.
- 1899 schlossen sich zwölf Körperbehindertenanstalten der Inneren Mission zusammen und gründeten den Verband der "Konferenz der deutschen Krüppelpflegeanstalten der Inneren Mission".
- In der katholischen Kirche wurde erst ca. 50 Jahre später, 1887 durch Prälat Lorenz Werthmann der "Deutsche Caritasverband" gegründet.
- Im Körperbehindertenbereich begründete Theodor Rektor II. Sommer als erster einen Verein zur Heilung und Pflege sowie schulischer und gewerblicher Ausbildung von Körperbehinderten, der "Josef-Gesellschaft e.V." genannt wurde.
- Blinde
- Subsummierung der Sehbehinderten unter die völlig Blinden
- Die Heimsonderschule für Blinde blieb in allen Ländern das nahezu unangefochtene Schulmodell
- Zentralisierung des Blindenbildungswesens, Spezialisierung von Blindenschulen nach Aufgabenber
- Einrichtung von Blindenlehrerkongressen, Entstehung von Lehr- und Lernmittelzentren
- 1879 3. Blindenlehrerkongress in Berlin, Ablehnung von höheren Bildungsanstalten für Blinde
- 1886 Unterrichtung Taubblinder in Nowawes (bei Potsdam)
- 1888 Förderung "schwachbefähigter Blinder" in Königswartha in Sachsen
- 1889 Förderung schwer mehrfach behinderter Blinder in Pfaffenhausen
- Sprachheilkunde
- Seit 1883 in Braunschweig Stotter-, später Sprachheilkurse für Kinder im Schul-, später auch Vorschulalter
- Erziehungsberatung
- 1883 Max Taube, Leiter der Leipziger Ziehanstalt, berät Pflegemütter unehlicher Kinder Erziehungsfragen
- 1896 Eröffnung der "Psychological Clinic
Lightner Witmer" an der Universität Pennsylvanias
(1. Psychologische Klinik)
Sully beginnt in London im psychologischen Labor mit der Untersuchung von Problemkinder
- Gesetze
- Deutsches Strafgesetzbuch von 1871 regelt den Strafvollzug Jugendlicher getrennt von Erwachsenen
Wissenschaft
- Eduard Seguin: "Die Idiotie und ihre Behandlung nach der physiologischen Methode" (1866)
- Georgens/ Deinhardt: "Heilpädagogische Anstalten als besondere Art von Notanstalten" (1861)
- Ende des 19. Jh.: - sozialdarwinistische Theorien breiten sich u.a. aus den USA aus
- 1868 "Über das Stottern und dessen Heilung"
- 1877 "Die Störungen der Sprache"
- 1879 A. Gutzmann veröffentlicht "Das Stottern und seine grundsätzliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren"
- 1891 Gründung der "Medizinisch-pädagogischen Monatsschrift für die gesamte Sprachkunde" (A. und H. Gutzmann)
Medien und Texte
"Taubstumme" und Gehörlose
Hilfsschule
- Konzeption der Hilfsschule nach Stötzner
- Diagnostik, Lerhrpläne, Unterrichtsprinzipien
- Zeitgenössische Texte
Sprachheilwesen
Literatur
- Möckel, Andreas: Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart 1988
- Möckel, Andreas: Geschichte der besonderen Grund- und Hauptschule. 4. Aufl., Heidelberg 2001
- Müller, Klaus E.: Der Krüppel. Ethnologia passionis humanae. C.H. Beck, München 1996
- Speck, O.: Geschichte. In: Handbuch der Sonderpädagogik, Bd.4. Pädagogik der Geistigbehinderten. Hrsg.: H. Bach. Berlin: Marhold 1979. S. 57-72
- Schröder, Siegfried: Historische Skizzen zur Betreuung schwerst- und mehrfachgeschädigter geistigbehinderter Menschen. In: Hartmann, N, (Hrsg.): Beiträge zur Pädagogik der Schwerstbehinderten. Heidelberg 1983. (S. 17-61)